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Die deutsche Seele

Die deutsche Seele

Titel: Die deutsche Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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sündigte nicht. »Auch ist’s mit der Kinderarbeit nicht allein darum zu tun, dass sie etwas erwerben und das Brot nicht so vergeblich auf die Seele fressen, sondern vielmehr darum, dass man mit der Arbeit vielen schändlichen und schädlichen Lastern, darein sie sonst durch Müßiggang fallen möchten, wehre und zuvorkomme, als da sind: Lügen, Trügen, Saufen, Spielen, Tauschen, Buhlen, Stehlen und dergleichen.« Diese Überzeugung, die bereits der Lutheraner Justus Menius in seiner Oeconomia Christiana festgeschrieben hatte, übernahm Francke und setzte sie in seiner »Stadt Gottes« konsequent um.
    Der Soziologe Max Weber vertrat in seiner berühmten Studie von 1904 / 05 die These, dass sich der Geist des Kapitalismus aus der protestantischen Ethik entwickelte habe. So triftig die These im Allgemeinen ist, so unscharf bleibt sie, was die Rolle angeht, die der Pietismus bei der Entstehung des Kapitalismus gespielt hat. Präziser äußerte sich Carl Hinrichs. In verschiedenen Abhandlungen untersuchte der Historiker die Frage, wie sich der deutsche Pietismus vom angelsächsischen Puritanismus unterschied, und kam zu dem Ergebnis: »Eine Religion, die individuelles Erfolgsstreben stimulierte und rechtfertigte, aber war der Pietismus letztlich nicht. Das unterscheidet ihn von den gleichzeitigen Spätformen des calvinistischen Puritanismus. Der deutsche Pietismus heiligt die Arbeit >für andere<, der spätere angelsächsische Calvinismus die Arbeit >an sich<.« Oder noch deutlicher: »In England beginnt mit dem Puritanismus auch der Kapitalismus, in Deutschland der Sozialismus.«
    In der Tat teilte Francke mit den späteren sozialistischen Menschheitsverfleißigern den missionarischen Furor, dass Arbeit, die nur dem eigenen Seelenheil dient, wertlos, wenn nicht gar sündhaft sei. Der pietistisch Bekehrte hingegen habe verinnerlicht, »dass er sein ganzes Leben Gott zu Ehren und seinem Nächsten zum Dienst und Nutzen führen möge, dass er sich als ein Opfer in dem Dienst Gottes und seines Nächsten gleichsam verzehre«. Jeder müsse »alles, was nach seinem Beruf und Stand möglich ist, zu seiner und anderer Errettung aus dem feuerbrennenden Zorne Gottes getreulich anwenden«.
    Zu betonen, dass jeder für seinen Nächsten mindestens so verantwortlich sei wie für sich selbst, ist dem Calvinisten fremd. Er befindet sich mit seinem Glauben an die Prädestination näher bei Luthers Gnadenlehre: Einem jeglichen soll bereits im Moment seiner Geburt von Gott vorherbestimmt sein, ob er ein Auserwählter ist oder nicht - spätere Erhebung in den Gnadenstand ausgeschlossen. Dass der Calvinist dennoch zu einem unermüdlich rackernden Wesen wurde, ist weniger theologisch als psychologisch zu erklären. Denn natürlich quält ihn die Frage, woran er bereits zu Lebzeiten erkennen kann, ob er zu den Seligen gehört. Hatte Luther diese Frage noch mit dem harschen Bescheid abgeschmettert, dass sich niemand der Seligkeit gewiss sein dürfe, bot der Calvinismus den - stressreichen - Trost an, dass sich Auserwähltheit am beruflich-ökonomischen Erfolg ablesen ließe, den der Einzelne im Leben habe. Der Calvinist schuftet nicht, um selig zu werden, sondern um sich - und den anderen - zu beweisen, dass er selig ist. Sozialpädagogische Disziplinierungsmaßnahmen sind in diesem Weltbild sinnlos: Wer sich zum Arbeiten nicht berufen fühlt, soll es bleiben lassen und schauen, wie er seine verdammte Seele bis zum Tag des Gerichts weiterschleppt.
    Wer nun aber wie Francke überzeugt war, dass Gottes Würfel nicht bereits mit der Geburt gefallen seien, sondern Gnade sich durch einen konsequent disziplinierten Lebenswandel erwirtschaften ließ, öffnete der allgemeinen Arbeitsmobilmachung Tür und Tor. Denn noch lieber sieht es der Herr, wenn sich der Einzelne nicht nur selbst abmüht, sondern ebenso rastlos danach strebt, möglichst viele aus dem Sündensumpf zu erretten. Christliche Nächstenliebe bedeutet im Pietismus nicht so sehr, Almosen zu geben; weit wohltätiger als derjenige, der dem Bettler einen neuen Mantel schenkt, handelt derjenige, der dem Bettler beibringt, wie er in Zukunft selbst Mäntel herstellen kann. Sogar der reiche Kaufmann - für Luther noch eine höchst verdächtige Gestalt - konnte bei Francke zum Inbegriff des guten Menschen werden, wenn dieser nur bereit war, nichts von seinen Gewinnen eigennützig zu genießen, sondern damit Stiftungen wie die seine in Glaucha zu unterstützen oder selbst neue Stiftungen zu

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