Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
Geschichte des heimatvertriebenen Polen Janetzko und seiner deutschen Enkelin ist ein Roman, er heißt »Katzenberge«. Die Autorin Sabrina Janesch ist 25 Jahre alt, das Buch beschreibt auch ihre eigene Familiengeschichte – eine Spurensuche in der osteuropäischen Vergangenheit, in der Geschichte der Vertriebenen. Doch Janesch, geboren in Gifhorn, dreht den Spieß um: Sie beschreibt, wie sehr ihr Großvater Schlesien hasste. Dass ihn der Krieg aus seinem geliebten Galizien ins »schleimige, schissige Schlesien« verschlagen hatte, verzieh er seinem Schicksal nie. Allein schon die schlesische Erde – so »feinkörnig, locker und steril«, ohne jeden Wurm oder Käfer, »als hätten die Deutschen sie gesiebt« – empörte ihn, Erde müsse feucht und schwer in der Hand liegen, so wie die fruchtbare Erde Galiziens.
Sie wolle »die Erfahrung schildern, nicht aus, sondern nach Schlesien vertrieben zu werden«, sagt Janesch.
Ganz unverkrampft nehmen junge Autoren die deutsche Geschichte im Osten seit einiger Zeit in den Blick. In der »Mittagsfrau« etwa beschreibt Julia Franck, geboren 1970, wie eine Vertriebene aus Stettin ihren achtjährigen Sohn auf dem erstbesten Bahnsteig im Westen aussetzt – es ist das Schicksal ihres Vaters. Tanja Dückers, Jahrgang 1968, erzählt in »Himmelskörper« (2003) eine westpreußische Familiengeschichte mit dunklen Flecken, die fast auf der untergegangenen »Wilhelm Gustloff« geendet hätte.
Flucht und Vertreibung, die deutsche Vergangenheit im Osten, alles, was so lange als ewiggestrig, unpopulär und anstrengend heikel galt, das ausgemustert, abgespalten war, ist ausgerechnet bei den Jüngeren wieder attraktiv. Unser altes Ostpreußen, das schöne Schlesien, die verlorene Heimat – war das nicht die ewige Litanei der Vertriebenen, der Hupkas und Steinbachs, mit denen liberale junge Deutsche nichts zu tun haben wollten, die sie nervten mit ihrer Beschwörung einer untergegangenen Welt? Nun erobern sich diese Welt die Enkel, die in Kassel, Unna oder Berlin aufwuchsen und Urlaub in Frankreich, Griechenland oder Spanien machen. Plötzlich finden sie es interessant, eine Vergangenheit in einem lange vernachlässigten Teil Europas zu haben, reisen in die ostpreußischen und böhmischen Heimatorte ihrer Großeltern.
»Wir leben in einer Epoche des Endes der Zeitzeugen«, erklärt der polnische Historiker Robert Traba die frische Neugier, »die neue Generation sucht neue Schlüssel, um die Geschichte erfahrbar zu machen.« Er selbst, Jahrgang 1958, lebt und lehrt seit vier Jahren in Berlin: »Wir sind dabei weniger emotional als der Zeitzeuge.« Vorbei sind die Zeiten vor der Wende, in denen bereits der Gebrauch alter Ortsnamen
einen politischen Streit auslöste. »Da wurde schon die Gesinnung daran festgemacht, ob man Breslau oder Wroclaw sagte«, erinnert sich Joachim Rogall, Osteuropahistoriker bei der Robert-Bosch-Stiftung. »In Polen hätte man vor 1990 nicht von Danzig gesprochen, weil man den Deutschen keine Argumente zuspielen wollte, und bei uns hat man nicht Danzig gesagt, damit die Polen nicht denken, wir wollten es wiederhaben.« Sabrina Janesch, die Autorin von »Katzenberge«, lebte zeitweise als Stadtschreiberin in Danzig. In ihrem Blog erzählte sie ganz selbstverständlich aus »Danzig« und nicht »Gdansk«.
Natürlich, 1989/90 hat alles verändert. Der Fall der Mauer, das Ende des Kalten Krieges, das Europa aus einer Starre befreite, und endlich erkannte die Bundesrepublik im Vertrag mit Polen juristisch »endgültig« die Oder-Neiße-Grenze an. Das entspannte die Nachbarn so sehr, dass längst auch über Deutsche als Opfer gesprochen werden kann.
Seit der »Gustloff«-Novelle von Günter Grass (»Im Krebsgang«) 2002 wird über Flucht und Vertreibung der Deutschen geschrieben, gefilmt und debattiert wie nie zuvor. Grass selbst sprach vom »bodenlosen Versäumnis«, es nicht früher getan zu haben. Der Elterngeneration der heute so unbelasteten Enkel fiel die Erinnerungsarbeit noch ungleich schwerer. Sie waren die Kinder der Flucht, von ihren Müttern übers Eis des Frischen Haffs geschleift, hungrig, frierend, verletzt.
Uwe-Karsten Heye, 70, war viereinhalb Jahre alt, als seine Mutter und seine Großmutter mit ihm aus Danzig flohen. Nur weil seine Mutter zufällig einen letzten Zug fand, fuhren sie nicht mit der »Gustloff«, auf deren Passagierliste sie standen. Nach dem Krieg schrie der kleine Uwe nachts stundenlang, so sehr plagten ihn die Bilder. Was seine
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