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Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Titel: Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Großbongardt
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Mutter durchgemacht haben mochte, wollte er gar nicht
wissen. Ihre Erinnerungen, die sie ihm kurz vor ihrem Tod übergeben hatte, trug er 15 Jahre mit sich herum, bis er es über sich brachte, sie zu lesen. So ähnlich ging es vielen Flüchtlingskindern, die häufig erst im Rentenalter anfingen, sich den Traumata ihrer Kindheit zu stellen.
    Heye, der später Gerhard Schröders Regierungssprecher wurde, hatte an der Seite Willy Brandts für die neue Ostpolitik geworben. Doch erst 1996 fuhr er erstmals nach Danzig, wo seine Mutter als Sekretärin im Reichspropagandaamt gearbeitet hatte. »Die Schreckensbilder, die ich seit der Flucht aus Danzig in mir trage, hatte ich verstaut und gut verpackt, bis sie kaum noch sichtbar waren.« Vor ein paar Jahren löste er die Verpackung und schrieb ein Buch (»Vom Glück nur ein Schatten«). Auch der Journalist Teja Fiedler recherchierte die Geschichte seines Vaters, eines Vertriebenen, der als Sudetendeutscher zu einem Mitläufer Hitlers wurde (»Die Zeit ist aus den Fugen«) – erst jetzt, 43 Jahre nach dessen Tod.
    Die Deutschen und ihr verlorener Osten, das ist eines der heikelsten und, trotz neuer Offenheit, noch immer nicht erledigten Kapitel der deutschen Historiografie und Debatten. Die vielen Filme und Bücher zu Flucht und Vertreibung zeigen, dass da noch kräftig nachzuholen ist. »Wir dürfen aber nicht in einen neuen nationalen Verlust-Mythos verfallen«, mahnt der Historiker Hans Henning Hahn. Es gehe heute darum, die Osteuropäer »auf gleicher Augenhöhe« zu sehen und »nicht im Osten nur uns selbst«. Viele tun das bereits, auch einst Vertriebene.
    Seit mindestens 800 Jahren lebten Deutsche jenseits von Oder, Neiße und Weichsel. Vom Mittelalter an zogen deutsche Siedler und Kreuzritter gen Osten, aus Schwaben und dem Rheinland, von der Mosel und aus dem Elsass. Deutsche waren in Allenstein und Hermannstadt zu Hause, in
Oppeln und St. Petersburg, in Riga und Reval, als Handelsleute, Handwerker, Beamte. »Ob in Siebenbürgen, an der Wolga oder im Baltikum waren die Deutschen stets Minderheiten, auch die Reichsprovinzen waren nie ›rein‹ deutsch«, sagt Hahn. Es war Hitlers Wahn, Osteuropa zu unterwerfen und zu germanisieren.
    »Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt« – solch weite Grenzen dichtete August Heinrich Hoffmann von Fallersleben 1841 seiner Nation im »Lied der Deutschen«. Als 1871 das Deutsche Kaiserreich endlich gegründet war, reichte es im Nordosten sogar noch über Tilsit und die Memel hinaus, im Südosten fast bis nach Krakau. Etwa zwei Millionen Preußen mit polnischer Muttersprache waren nun Deutsche. Die Preußische Ostbahn verband Berlin mit Königsberg, auch nach Breslau fuhr man von der Hauptstadt bequem mit dem Zug. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs lebten in den Provinzen östlich von Oder und Neiße fast 20 Millionen Deutsche, etwa die Hälfte in den Reichsgebieten Ost- und Westpreußen, Pommern, Brandenburg, Nieder- und Oberschlesien, der Grenzmark Posen-Westpreußen sowie fast neun Millionen in Siedlungsinseln oder verstreut in Polen, der Tschechoslowakei, den baltischen Staaten, der Sowjetunion, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Jugoslawien. Ihre Existenz geriet unter dem zunehmenden Nationalismus, vor allem aber mit der willkürlichen Neuordnung Osteuropas nach dem Ersten Weltkrieg ins Wanken. Und dann, nach dem furchtbaren Inferno von Krieg, Flucht und Vertreibung, war alles verloren. Pommern, Schlesien, das Sudetenland, das Baltikum, Siebenbürgen, Danzig, Königsberg, Breslau, Posen.
    Wie soll eine Nation mit einer solchen Amputation umgehen? »Dass dies alles vor wenigen Tagen noch Deutschland war, ist kaum zu fassen«, schrieb Hans Graf von Lehndorff
am 21. April 1945 in sein Tagebuch, als er mehr tot als lebendig durchs zerstörte Ostpreußen irrte. Doch die Deutschen, die nach dem Krieg und der Nazi-Diktatur am Boden lagen, sie kümmerten sich ums Überleben. Man schaute immer weniger nach Osten, wo die Deutschen Täter und später auch Opfer geworden waren, wo hinter dem Eisernen Vorhang ein anderer Kosmos herrschte, der kommunistische Ostblock, der einst blühende Bürgerstädte in sozialistische Industriezentren mit Plattenbauten verwandelte. Spätestens seit den sechziger Jahren endet »bei den meisten Deutschen die Landkarte im Kopf an Oder und Neiße«, meint Rogall.
    Zwölf Millionen Ost-Flüchtlinge und Vertriebene kamen nach dem Krieg in Westdeutschland und der Sowjetzone an. »Doch die im

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