Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
des Polenkönigs vorpreschen, um den Zustand des Bodens zu testen, gibt Jungingen seinen Leuten den Befehl zum Angriff – tausendfach erschallt, als müssten sie sich Mut machen, das Osterlied »Christ ist erstanden«. Und die Polen antworten mit der »Bogurodzica«, der Hymne an die Gottesmutter. Mehrfach setzt der Hochmeister an, die feindlichen Linien zu durchbrechen – ohne Erfolg. Am Abend ist die masurische Heide blutgetränkt, 17 000 Kämpfer sind tot, auch Jungingen und die meisten seiner Ordensritter. Über 50 ihrer Fahnen fallen den Siegern in die Hände, zusammen mit den Schwertern werden sie später in feierlicher Prozession auf die Krakauer Königsburg gebracht – Symbole einer vernichtenden Niederlage. Zwar bedeutete sie nicht den Todesstoß für den Orden, aber er hatte den Nimbus seiner Überlegenheit eingebüßt. Damit begann der Niedergang einer Macht, die, nachdem sie zu Hilfe gerufen worden war, als überaus gieriger Eindringling auftrat.
Das ist ein Aspekt jenes Phänomens, das als »Ostsiedlung« oder, aus heutiger Sicht durchaus negativ, »Ostkolonisation«
in die deutsche Geschichte eingegangen ist: der »Drang nach Osten«, wie es der französische Mediävist Charles Higounet definiert, ein »kriegerischer, eroberungslüsterner Drang der Fürsten«. Die andere Betrachtungsweise sieht es als »Zug nach Osten« – von Bauern, Handwerkern und Kaufleuten, und Higounet vergleicht ihn mit den Trecks amerikanischer Pioniere gen Westen viel später. Teils suchten sie ihr Glück, teils wurden sie von berufsmäßigen Anwerbern (»Lokatoren«) gerufen; das »langsame Einsickern Tausender friedlicher kleiner Gruppen« habe, resümiert der Experte, »auf Jahrhunderte die ethnische Zusammensetzung und die Landschaft Ostmitteleuropas von der Ostsee bis zu den Karpaten und zur Drau tiefgreifend verändert«.
So verzahnten sich die Slawen – ihr Name bedeutet: die Schweigsamen – enger mit der Völkerfamilie Europas. Andererseits wurden ganze Landstriche, wie etwa das heute zu Rumänien gehörende Siebenbürgen, zeitweise deutsch – und allerorten zeugten Familiennamen von der Herkunft der Immigranten: Baier und Hesse, Franke oder Schwab oder Sachs.
Es mag überraschend klingen, aber es ist gesicherte Erkenntnis: Seit der Jahrtausendwende war die Zahl der Menschen so stark angestiegen, dass der Westen Europas bereits als übervölkert galt. Schon um das Jahr 1100 gab es kaum noch Waldgebiete, deren Rodung nennenswert genug Land geboten hätte für gewinnbringenden Ackerbau. Hinzu kam die wirtschaftliche und soziale Situation vor allem der Bauern, die, weil sie »unfrei« waren und damit so gut wie rechtlos, alle Knechtungen ihrer adligen Herren zu erdulden hatten. Die Verarmung nahm schon deshalb beständig zu, weil das in weiten Teilen des Deutschen Reiches bestehende Erbrecht nur den ältesten Sohn berücksichtigte. Alle
anderen Kinder, und das konnten viele sein, mussten sich irgendwo als Billigstkräfte verdingen.
Leben, leben lassen, neue Lebensräume erschließen mit Unterstützung jener, die anderswo die Herren waren – der Osten freilich bot diese Chance, er war nur dünn besiedelt. Deshalb, notierte der Mönch Helmold von Bosau in seiner um 1167 verfassten »Slawenchronik«, habe sein Graf Boten geschickt »in alle Lande, nämlich nach Flandern und Holland, Utrecht, Westfalen und Friesland« – »auf dass alle, die von der Landnot bedrückt wurden, mit ihren Hausgenossen kämen, um schönsten Boden, weiten Raum, reich an Früchten, überreich an Fischen und Fleisch und einladend durch üppige Weiden, zu empfangen«. Im »Lied der Ostlandfahrer«, einem ursprünglich flämischen Auswandererlied aus dem 12. Jahrhundert, klang denn auch schon bald viel Optimismus mit. »Nach Ostland wollen wir reiten, nach Ostland wollen wir mit«, lautete eine Strophe, »frisch über die grüne Heiden, da ist eine bessere Stätt.«
Und nach gefährlich-strapaziöser wochenlanger Tour stellten die meisten Übersiedler fest, dass tatsächlich genug Land für jeden da war, sie konnten einigermaßen frei leben und nach Gutdünken über ihren neuen Besitz verfügen, oftmals veredelten sie ihn mit Techniken, die den Alteingesessenen fremd waren. Flüsse eindeichen, Sümpfe trockenlegen – »letztlich ausschlaggebend für den Erfolg des Kolonisationswerkes« sei die »deutsche Kultivierungstechnik« gewesen, lobt der Würzburger Geschichtsforscher Winfried Stadtmüller. Vor allem Mönche, besonders die
Weitere Kostenlose Bücher