Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
sprachen sich in einer Umfrage 53 Prozent der Befragten für eine dauerhafte Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze aus – wenn das ein besseres Verhältnis zum Osten bringe. In den Augen Kittels behandeln die Deutschen ihre Geschichte im Osten »ungefähr so wie die Episode ihrer Kolonialherrschaft in Ostafrika«. Das trifft die ewige Klage der Vertriebenen, doch auch für den einstigen rot-grünen Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin geht es darum, »das kulturelle Erbe im mittleren und östlichen Europa wieder selbstverständlicher zu sehen und es als Teil auch der deutschen Kulturgeschichte zu begreifen«.
Dabei haben deutsche Historiker mit ihren osteuropäischen Kollegen längst eine erfrischende Selbstverständlichkeit erreicht. Sie arbeiten gemeinsam an einem deutsch-polnischen Geschichtsbuch, ohne jegliche »nationale Fronten«, wie der beteiligte Historiker Michael Müller lobt. Und wenn in Danzig nun ein Museum des Zweiten Weltkriegs entsteht, das alle europäischen Opfergeschichten berücksichtigen will, arbeitet dort ganz selbstverständlich auch der junge deutsche Historiker Daniel Logemann mit, der in Krakau und Lublin studiert hat und mit einer Polin verheiratet ist. Was früher deutscher Osten war, ist für ihn heute einfach europäische Heimat. Wie Deutsche in Paris oder London, wie Franzosen oder Italiener in Berlin oder München, lebt Logemann nun in Danzig. Dort wird längst auch der 20 000 deutschen
Flüchtlinge, die mit Schiffen wie der »Gustloff« untergingen, von Polen und Deutschen gemeinsam gedacht.
»Wir sind auf dem Weg in eine Normalität«, sagt der Historiker Rogall, in der nun alles in Relation gesetzt werde, die verschiedenen Perspektiven zusammengeführt, Opfergeschichten nebeneinandergestellt. Aber an einem fehle es noch immer: »Da ist noch viel Anstoß zu leisten, dass man tatsächlich nach Osten schaut oder auch hinfährt – so selbstverständlich wie nach Frankreich oder selbst in die USA.« Sabrina Janesch, die deutsche Autorin mit der polnischen Mutter, die sich in einen Deutschen verliebte, tut es weiter – ihr nächster Roman soll in Danzig spielen.
»Nach Ostland wollen wir reiten«
Der dünnbesiedelte Raum vom Baltikum bis zum Balkan zog im Mittelalter eroberungslüsterne Kolonisatoren, vor allem aber fleißige Bauern, Handwerker und Kaufleute aus dem Westen Europas an.
Von Georg Bönisch
Stunden zuvor hat es geregnet, und kaum ist die Sonne am Himmel, lastet über der auserwählten Kampfesstätte drückende Schwüle. Es ist der 15. Juli 1410. In der wunderbaren Landschaft Masurens, nahe den Dörfern Tannenberg und Grünfelde, nicht weit entfernt von Allenstein, stehen sich auf einer Frontlänge von drei Kilometern stundenlang zwei gigantische Heere gegenüber. Das Niemandsland zwischen beiden ist gerade mal 200 Meter breit, drei Steinwürfe, die Soldaten können sich fast in die Augen schauen. Ein »grosser streyth« soll durch eine Entscheidungsschlacht beendet werden – die seit Jahrzehnten schwelende Auseinandersetzung um Grund und Boden und um Menschen, die darauf siedeln.
Auf der einen Seite hat sich eine Armee von Polen und Litauern versammelt, unterstützt von Ruthenen aus dem heutigen Weißrussland und tatarischen Reitern, fast 40 000 Mann. Ihnen gegenüber stehen etwa 27 000 Kämpfer unter dem Befehl des Deutschen Ordens, der im Osten des europäischen Kontinents mit Verve die gewaltsame Christianisierung heidnischer Völker betrieben und riesige Landstriche kolonisiert hatte – um dann einen eigenen Staat zu errichten, eine Art Gottesstaat, der am Ende 200 000 Quadratkilometer umfasste, fünfmal so groß wie die Schweiz.
Hunderte der siegverwöhnten Ordensritter stecken nach einem gewaltigen, kräftezehrenden Nachtmarsch in ihrer immer heißer werdenden Rüstung, auch Ulrich von Jungingen, der Oberkommandierende. Das schlaucht und macht nervös, unkonzentriert. Seine Kontrahenten, der polnische König Wladyslaw II. Jagiello und der litauische Großfürst Vytautas, warten hingegen geduldig im Schatten großer Bäume, die Geste ist klar: Wir haben Zeit, viel Zeit.
Jungingen will endlich die Schlacht, die eine der gewaltigsten des späten Mittelalters werden soll. Deshalb schickt er den beiden Regenten um die Mittagszeit einen Abgesandten, der ihnen zwei blanke Schwerter überreicht. Es ist ein Akt des Übermuts. Kämpft, soll dies heißen, kämpft, eine Chance habt ihr freilich nicht, »nehmet sie euch zur Hilfe, diese Schwerter«. Als Reiter
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