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Die Diktatorin der Welt

Die Diktatorin der Welt

Titel: Die Diktatorin der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Mahr
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Er beobachtete schweigend die endlose Kette kleiner, offener Fahrzeuge, die mit Fußgängergeschwindigkeit an der Bahnsteigkante entlangrollten. Er musterte den unaufhörlichen Menschenstrom, der die Rolltreppen vom Straßenniveau herabflutete. Er horchte auf die manchmal aufgeregten, manchmal gelangweilten Stimmen, mit denen die Menschen sich unterhielten. Er sah sie sich in die Kettenwagen schwingen, nonchalant und ohne ihre Unterhaltung zu unterbrechen. Er ließ den sausenden, brausenden Lärm auf sich einwirken und nahm das bunte Spiel der Lichter auf den Richtungstafeln mit hungrigen Augen in sich auf. Während er horchte und schaute, während er bewußt ein Teil des unsagbar alltäglichen Treibens wurde, das sich um ihn herum abspielte, fiel ein Teil der dumpfen Furcht von ihm ab, die ihn bisher beherrscht hatte. Er fing an, die Dinge in einem anderen Licht zu sehen. Dies war die Wirklichkeit, die er kannte. Die schwarze Welt schien plötzlich unendlich weit entfernt. Er hatte heute ein Gebiet betreten, das dem menschlichen Geist völlig unbekannt war – eine gigantische Einöde, in der das Gehirn erst lernen mußte, sich zurechtzufinden. Woher wußte er, ob Nenu, Linth und Kori Wirklichkeit waren?
    Er hakte Dado unter und schritt mit ihr auf den Rand des Bahnsteigs zu.
    »Danke«, sagte er halblaut, als sie in einen leeren Wagen einstiegen, »ich brauchte das.«
    Dado nickte ihm zu.
    »Ich weiß.« Sie faßte ihn bei der Hand und strich ihm zärtlich über den Handrücken. »Es tut gut, wieder da zu sein, wo man hingehört, nicht wahr?«
    Sie rumpelten mit der Kette durch die unterirdischen Verkehrskanäle der Stadt Epcot, die, wie es die Ironie des Schicksals wollte, vor rund einem Jahrtausend von einem Magnaten der Vergnügungsindustrie namens Walt Disney geplant und von seinen Nachfolgern gebaut worden war. Disney hatte der Welt des zwanzigsten Jahrhunderts zeigen wollen, wie die Welt des einundzwanzigsten aussehen würde. Seine Vorausschau hatte sich als umfassender erwiesen, als er selbst sich jemals hätte träumen lassen. Die Kettenbahn entpuppte sich als das ultimate Kurzstrecken-Verkehrsmittel. Versuche mit anderen Transportmethoden waren gemacht worden, und es gab Städte, hauptsächlich im Kulturkreis der Sozialistischen Union der Nationen, in denen Rollbänder den Nahverkehr besorgten. Das Bandsystem war der Kettenbahn eindeutig unterlegen. Es war keineswegs unfallsicher und für den, der nicht auf den Meter genau wußte, wohin er wollte, zeitraubend und umständlich. Da, wo es bereits existierte, wurde es aus Prestigegründen beibehalten. In neuen Städten entschied sich jedoch auch die SUN für das Kettenbahnprinzip.
    Ken und Dado stiegen am Nordrand der Stadt aus und fuhren mit der Rolltreppe zum Straßenniveau hinauf. Es bedurfte keiner Absprache, wo sie zu Abend essen würden. Schon recht früh, als Dado erst wenige Wochen zum inneren Forschungskreis gehörte, hatten sie ein kleines französisches Restaurant am Nordrand der Stadt zu ihrem Stammlokal gemacht. Sie waren seitdem Dutzende von Malen im »Chez Aline« zu Gast gewesen, und man kannte sie dort. Alex, der Besitzer, empfing sie auch an diesem Abend mit der gewohnten Verbeugung und einem Schwall von Worten mit französischem Akzent. Alex stammte aus Orlando, fünfzehn Kilometer entfernt, und hatte außer einem sechswöchigen Urlaub in Paris keinerlei Verbindung mit dem französischen Kulturkreis aufzuweisen. Die Stammgäste wußten davon, aber das Lokal verlor dadurch nichts von seiner Atmosphäre. Der Koch war echter Franzose, und die beiden Bedienungen stammten aus Französisch-Kanada.
    Es war ziemlich früh am Abend. Das Lokal war fast leer. Ken ertappte sich dabei, wie er die wenigen Gäste aufmerksam musterte, als erwartete er, Nenu oder einen ihrer Kumpane hier zu sehen. Alex geleitete sie zu einem Tisch, der hinter einem Wandvorsprung in einer unübersichtlichen Nische stand. In den vergangenen Jahren war dieser Tisch für Ken und Dado zu einer Art Stammplatz geworden. Hier an diesem Tisch und nirgendwo sonst, unbeobachtet von der Welt, hatte Ken Lohmer jemals den Mut gefunden, Dado Großman zu versichern, daß er sie liebte.
    Sie bestellten und wurden schnell und freundlich bedient. Nach den ersten zwei Schlucken Wein fühlte Ken sich unbelastet von allen Sorgen und fing an, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie er Dado am besten erklärte, daß das wiederholte Geständnis seiner Zuneigung nicht als Selbstzweck zu betrachten

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