Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Drachen von Montesecco

Die Drachen von Montesecco

Titel: Die Drachen von Montesecco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
Vom Netzwerk:
Schwanz war ebenso tiefschwarz bemalt wie der größte Teil des eigentlichen Drachens, der den Kopf eines Untiers darstellte. Nur die überdimensionalen, weit aufgerissenen Augen, die Nüstern und das Maul glühten in Rot-und Orangetönen. An den Außenkanten war eine Mähne aus ebenfalls schwarzen Papierstreifen befestigt, die jeweils in einen stilisierten Schlangenkopf ausliefen. Vannoni hatte sich an das Medusenhaupt erinnert gefühlt. Das hatte Minh nichts gesagt. Ganz ernsthaft hatte er Vannoni erklärt, daß diese Art von Drachen in China dazu verwendet würde, den Göttern Wünsche und Bitten der Menschen nahezubringen.
    »Welche Wünsche?« hatte Vannoni gefragt.
    »Alle.«
    »Und du? Was wünschst du dir von den Göttern?«
    Minh hatte nicht geantwortet. Auch jetzt stand er schweigend da und sah zu, wie seine Konkurrenten nacheinander ihre Drachen vorführten. Ivan Garzone kommentierte mal launig, mal begeistert. Es hörte sich an, als hätte er sein ganzes Leben damit verbracht, die Schönheit selbstgebastelter Flugobjekte zu beurteilen. Endlich kündigte er Minh, der zuletzt an der Reihe war, als Wunderkind der Drachenbaukunst und ganzen Stolz Monteseccos an.
    Der Junge spulte von beiden Leinen ein paar Meter ab und entfernte sich gegen den Wind, bis sie sich strafften. Matteo Vannoni hielt den Drachen hoch. Auf ein Nicken Minhs ließ er los, der Junge zog an, der Drachen hob den Kopf, als erwache er gerade aus hundertjährigem Schlaf, und schwang sich in die Luft. Ohne auch nur einen Zentimeter nach links oder rechts auszubrechen, stieg er nach oben, suchte sein Element und schuf Distanz zwischen sich und den seltsamen Wesen unter sich. Etwa fünfzehn Meter über dem Feld hielt er inne, stand quälend lange Augenblicke still. In der Mähne spielte der Wind, der Schwanz schlug wie der einer Raubkatze vor dem Sprung, doch der Drachenkopf selbst blieb völlig unbewegt, schien an den Himmel genagelt, und die rotglühenden Augen starrten auf die Zuschauer herab.
    Minh stand breitbeinig, lehnte den Rücken gegen den Wind und die Zugkraft des Drachens. Die Arme hielt er erhoben, in den Ellenbogen ein wenig angewinkelt, konzentriert, ruhig und gleichzeitig bis in die letzte Faser gespannt. Ein Dirigent unmittelbar vor der Ouvertüre, nurdaß er keinen Taktstock in den Fingern hielt, sondern zwei Spulen, und daß kein Orchester auf seinen Einsatz wartete, sondern ein schwarzes, von Menschen gemachtes Ungeheuer. Als dann der Drachen wirklich zum Leben erwachte, konnte man schwerlich sagen, wer wen dirigierte. Ob zuerst Minh mit der Hand zuckte oder der Drachen so unwirsch den Kopf schüttelte, daß die Schlangenhaare wild in die Luft bissen. Ob der Drachen zum Looping gezwungen wurde oder dem Jungen aus Bosheit die Arme verdrehte. Doch jedem, der sie beobachtete, war klar, daß einer nur durch den anderen lebte. Die Leinen ketteten beide aneinander. Es schien fast, als wären sie ein einziges Wesen.
    Hundertfünfundfünzig verschiedene Figuren sind im Drachensport bekannt, und Minh flog sie wohl alle. Vielleicht sogar ein paar mehr, die er selbst erfunden hatte. Von den Zuschauern hätte das keiner zu sagen gewußt. Nicht nur, weil sie Laien waren, sondern weil das, was sich über ihnen abspielte, nicht im geringsten an Kunstflugfiguren irgendeines Drachens erinnerte. Das Wesen dort oben atmete. Es blies die Backen auf, bevor es sich in eine Kurve legte, es kreischte auf dem Steilflug wie eine Dreizehnjährige in der Achterbahn, nur um gleich darauf als alter Mann wieder mühsam nach oben zu keuchen. Verführerisch flüsterte es mit dem Wind, hob das Kinn, drehte den Kopf, schüttelte ihn, nickte, nein, ja, vielleicht, deutete zwei schwingende Tanzschritte an, einen Walzer, einen Tango? Es wirbelte heftiger, schüttelte ekstatisch die Haare, nein, es tanzte allein, in wilder, rettungsloser Einsamkeit, und während der Wind den Beat durch die Adern peitschte, versank die Welt in schwarzer Nacht.
    Das Wesen schlief ein und wachte wieder auf, streckte sich, gähnte, tappte zögernd nach links und rechts, taumelte von unsichtbaren Wänden zurück, zog sich an ihnen hoch, glitt ab und hüpfte fast ratlos auf der Stelle, bevor es sich aufzublähen schien, in einem gewaltigen Schwung unter dem eigenen Schwanz durchtauchte und sich kopfüber nach unten stürzte. Mit wahnwitziger Geschwindigkeit raste es auf den Boden zu, drehte im letzten Moment zur Seite ab, katapultierte sich nach oben, stürzte und stieg, stieg und

Weitere Kostenlose Bücher