Die Drenai-Saga 5 - Im Reich des Wolfes
Alter aktiv blieb, in dem die meisten – wenn nicht alle – Zeitgenossen seiner Jugend schon tot waren.
Ein Ausreißer, ein Adeliger, der Reichtum und Privilegien den Rücken gekehrt hatte, ein Flüchtling vor der Tyrannei der Gothir … all das hatte er sich ausgemalt, als er an Dakeyras dachte. Und noch mehr. Aber jetzt waren diese Spekulationen müßig: Dakeyras
war
der legendäre Waylander – der Mann, der König Oriens Sohn, Niallad, getötet hatte. Aber er war auch der Held, der die verborgene Bronzerüstung gefunden und sie dem Volk der Drenai zurückgegeben hatte, um es auf diese Weise von den mörderischen Exzessen der einmarschierenden Vagrier zu befreien.
Der alte Mann seufzte. Welche neuen Geheimnisse konnte er jetzt wohl finden, um seinen Geist zu beschäftigen und den Lauf der Zeit sowie das unausweichliche Herannahen des Todes zu verdrängen?
Er hörte, wie Miriel in dem anderen Zimmer aufstand. Sie schlenderte herein, groß und schlank und nackt. »Guten Morgen«, grüßte sie ihn freundlich. »Hast du gut geschlafen?«
»Ziemlich gut, Mädchen. Du solltest dir etwas überziehen.« Seine Stimme war barsch; die Worte kamen in einem schärferen Tonfall, als er beabsichtigt hatte. Es war nicht so, daß ihre Nacktheit ihn erregte – eher im Gegenteil, stellte er fest. Ihre Jugend und ihre Schönheit ließen ihn nur um so mehr das Gewicht seiner Jahre spüren, die sich hinter ihm als gewaltiger Berg auftürmten. In Melaga hatte er es zuerst bemerkt, vor etwa fünfzehn Jahren. Er hatte sich eine Hure genommen, ein dralles Frauenzimmer, aber er hatte nicht gekonnt, trotz all ihrer Liebeskünste.
Schließlich hatte sie die Achseln gezuckt. »Tote Vögel können nicht mehr aus dem Nest fliegen«, sagte sie grausam.
Miriel kehrte zurück, jetzt in grauen Beinkleidern und einem Hemd aus cremefarbener Wolle. »Gefällt dir das besser, Herr Kesselflicker?«
Er lächelte gezwungen. »Alles an dir, meine Liebe, gefällt mir. Aber nackt erinnerst du mich an alles, was einmal war. Verstehst du das?«
»Ja«, antwortete sie, aber er wußte, daß sie ihm nur einen Gefallen tun wollte. Was verstanden die jungen Leute schon? Sie zog einen hohen Stuhl zum Feuer, drehte ihn um und setzte sich ihm rittlings gegenüber, die Ellbogen auf die hohe Rückenlehne gestützt. »Du hast einige der Männer erwähnt, die meinen Vater jagen«, sagte sie. »Kannst du mir etwas über sie erzählen?«
»Es sind gefährliche Männer, einer wie der andere – und da sind auch noch die, die ich nicht kenne. Aber ich kenne Morak den Ventrier. Er ist tödlich, wahrhaft tödlich. Und ich glaube, daß er verrückt ist.«
»Welche Waffen bevorzugt er?« fragte sie.
»Säbel und Messer. Aber er ist auch ein sehr geschickter Bogenschütze. Und er ist sehr schnell – wie eine zustoßende Schlange. Er tötet jeden – Mann, Frau, Kind, einen Säugling auf dem Arm. Er hat die Gabe, den Tod zu bringen.«
»Wie sieht er aus?«
»Mittelgroß, schlank. Er trägt gern grüne Kleidung, und er hat einen Ring aus schwerem Gold, in den ein grüner Stein gefaßt ist. Er paßt zu seinen Augen, kalt und hart.«
»Ich werde nach ihm Ausschau halten.«
»Wenn du ihn siehst – töte ihn«, knurrte Ralis. »Aber du wirst ihn nicht sehen.«
»Du glaubst nicht, daß er herkommen wird?«
»Das habe ich nicht gesagt. Ihr beide wäret am besten beraten, hier zu verschwinden. Selbst Waylander kann nicht alle besiegen, die sich ihm entgegenstellen.«
»Unterschätze ihn nicht, Kesselflicker«, warnte sie ihn.
»Das tue ich nicht«, erwiderte er. »Aber ich bin ein alter Mann, und ich weiß, daß die Zeit aus uns allen kindische Greise macht. Früher war ich einmal jung, schnell und stark. Aber langsam, wie Wasser einen Stein höhlt, nimmt die Zeit dir deine Schnelligkeit und deine Kraft. Waylander ist kein junger Mann mehr. Diejenigen, die ihn jagen, stehen in der Blüte ihrer Jahre.«
Sie nickte und wandte den Blick ab. »Dein Rat ist also, davonzulaufen?«
»An einen anderen Ort, unter einem anderen Namen. Ja.«
»Erzähl mir von den anderen Männern«, bat sie.
Und das tat er und sagte ihr alles, was er über Belash, Courail, Senta und viele andere wußte. Sie hörte meist schweigend zu, doch hin und wieder unterbrach sie ihn mit sachlichen Fragen. Zufrieden, daß sie Ralis’ Wissen aufgesogen hatte, stand sie schließlich auf.
»Ich mache dir Frühstück«, sagte sie. »Du hast es dir redlich verdient.«
»Was hast du durch meine
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