Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle
wohlgestalteten Gliedern und ihrer jugendfrischen Schönheit ein prachtvolles Gefäß für meine ruhelose Seele.
Immer wieder suchte ich in der Eisenbahn den Waschraum allein wegen des Spiegels auf, in dem ich mich betrachten konnte, und es berauschte mich mehr und mehr, diesen herrlichen Körper für mich zu entdecken.
Aber Estelle zeichnete nicht nur ihre Schönheit aus, in ihrem Kopf steckten ein wacher Geist und eine forschende Neugier, die sich bald auf mich übertrugen. Sie musste ein wilder Backfisch gewesen sein, jungenhaft und abenteuerlustig, was sicherlich an der fehlenden Mutter lag. Nun aber war sie eine geistvolle und attraktive junge Dame, mit der ich mehr und mehr verwuchs.
Ich merkte, wie ich begann, die vorübergleitende Landschaft mit ihren Augen zu sehen, und ich fühlte in mir eine freudige Erwartung, je näher wir der Hauptstadt Berlin kamen.
Diese Vorfreude wurde sichtlich von Friedrich geteilt, während Vanderborg immer niedergedrückter wirkte.
»Ich bin so glücklich, wenn dieses Abenteuer überstanden ist«, sagte Friedrich, froh, nach der langen Fahrt aufdem Kutschbock, im Abteil endlich die Beine ausstrecken zu können. »Es gelüstet mich nach Gesellschaft.« Er sah mich lachend an. »Und dich, Estelle, doch sicherlich nach den Bällen. Bald beginnt die Saison und eine Schönheit wie du wird nicht lange ohne Freier bleiben. Den Herrn Vater wird es freuen, wenn du die Haushaltskasse entlastest und wohlhabend einheiratest.«
»Das wird nicht eilen«, sagte ich abwehrend und fand den Gedanken, eines Mannes Weib zu werden, verstörend.
»Nicht wahr, Vater?«, wandte ich mich an Vanderborg. »Ich bin Euch zu nützlich bei Eurer Arbeit an neuen Erfindungen. Ihr werdet mich nicht an einen Ehemann weggeben.«
Vanderborg lachte, doch es klang gequält.
»Nein, liebes Kind, nicht mal für ein gutes Stück Geld.«
Wie sehr er aber genau dessen bedurfte, war mir damals in seiner ganzen Tragweite nicht bewusst. Und so erreichte ich Berlin erwartungsfroh und leicht gestimmt mit dem glutvollen Herzen einer jungen Frau und meiner alten gebrannten Seele.
F riedrich, der Estelle wohl am besten kannte, fiel nach unserer Rückkehr als Erstem auf, dass sie sich verändert hatte, was, bei aller wundersamen Transformation vieler Facetten ihres Wesens auf mich, dennoch zu erwarten war.
Ich selbst war meiner neuen Existenz keineswegs sicher und fürchtete bei jeder von meinen Mitmenschen entdeckten Absonderlichkeit, dass sie mein neu gewonnenes Dasein infrage stellen, ja vielleicht als eine Illusion entlarven könnte. Deshalb bemühte ich mich mit aller Kraft, meinemenschlichen Eigenschaften zu kultivieren und alles, was meiner vampirischen Vergangenheit angehörte, zu unterdrücken, ja möglichst gänzlich zu eliminieren.
Es ist der Geist willig, sagt man, aber das Fleisch bleibt schwach, und so musste auch ich sehr bald feststellen, dass mir meine vampirische Stärke zwar schwand, je mehr ich in Estelles Körper heimisch wurde, meine vampirischen Schwächen jedoch blieben. Womit ich als Estelle verwundbarer war als je zuvor.
Der Blitzschlag in den Karpaten lieferte zunächst eine überzeugende Erklärung für Estelles verändertes Verhalten.
Der Umstand, dass ich mich zum Beispiel in der Wohnung in der Brüderstraße nicht zurechtfand, ja nicht einmal den Weg zu meinem Zimmer kannte, wurde von Friedrich durch eine Teilamnesie, hervorgerufen durch eben diesen Unfall, entschuldigt, und wenn man es genau nahm, war es ja auch so. Wenn auch in andere Weise, als er es sich wohl dachte.
Einen Arzt deswegen aufzusuchen, lohnte freilich nicht, denn ich orientierte mich sehr rasch und lernte schnell auch die Namen des Dienstpersonals und der engsten Freunde der Familie.
Estelles Bruder Hansmann jedoch stellte für mich ein weit größeres Problem dar, denn obwohl er, wie Friedrich mir erzählte, nie eine besonders enge Beziehung zu Estelle gehabt hatte, umlauerte er mich ständig, und bei allem, was ich nicht genau so tat, wie er es von Estelle gewöhnt war, hinterfragte er und wollte wissen, warum ich mich seit der Reise in die Karpaten anders verhalten würde?
Ich beschied ihn schließlich damit, dass er sich doch vielleicht selbst einmal einem solch gewaltigen Stromschlagaussetzen sollte, dann würde ihm sicherlich klar werden, dass das Leben danach ein wenig anders aussehe und weiterginge als zuvor.
Friedrich pflichtete mir bei: »Weswegen, meinst du, setzt man die Kranken in den Irrenhäusern
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