Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle
Bronzesäule stand. Doch als Friedrich aus einem Stadtführer vorlas, dass es sich bei dergoldglänzenden Figur auf ihrer Spitze um das »Génie de la Liberté«, also mithin den Geist der Freiheit handle, da wurde Eleonores Erinnerung in mir plötzlich so mächtig, dass um mich herum das geschäftige Paris der Gegenwart einfach versank und die Flammen der Revolution noch einmal hell aufloderten.
Ich wurde zurückkatapultiert in das Paris des Revolutionsjahres 1789, am Abend des Sturms auf die Bastille. Nach dorthin hatte ich mich auf der Spur des Vladko von Przytulek durchgeschlagen, der am französischen Hofe als Übersetzer und Diplomat wirkte. Auch er, ein Nachkomme des verhassten Landgrafen Ladislav, sollte meiner Rache nicht entgehen. So schloss ich mich, kaum dass ich die Stadt erreicht hatte, den Aufständischen an, getrieben von dem unbändigen Verlangen, Vladko und dem ganzen Adelspack das Leben abzuschneiden.
Es war von Vorteil, dass die Auflehnung gegen den Feudalstaat bis in die niedrigsten Stände reichte, wo eine Frau so viel galt wie ein Mann, wenn sie nur bereit war, den Besen als Waffe zu verwenden und dem Adel damit den Kehraus zu besorgen.
Allerdings war die Art des Umgangs miteinander nicht die feinste, und ich musste mich mehr als einmal gegen Mannspersonen zur Wehr setzen, die an mir ihre Lust befriedigen wollten, ohne mich lange um meine Einwilligung zu bitten. Meine Ablehnung f iel meistens tödlich aus, aber wer fragte danach, wo in den Gossen von Paris die Leiber jener sich stapelten, die um größerer Dinge willen ihr Leben lassen mussten.
Ich war recht bald in eine Gruppierung geraten, die sich um den Verleger und Journalisten Jean Paul Marat geschart hatte und als dessen verlängerter Arm seine Flugschriften gegen die Fürsten und deren Lakaien unter das entrechtete Volk brachte, um die Ketten seiner Sklaverei zu brechen. Er hauste damals ineiner versteckten Kammer in einem Pariser Hinterhof, die über und über mit Büchern und Papieren übersät war und in deren Mitte eine Druckerpresse stand, auf der er unermüdlich neue Flugschriften druckte.
Als ich ihm das erste Mal dort begegnete, war sein Körper, den er nur lose in einen Morgenrock gehüllt hatte, von Geschwüren übersät, die ihm eine seltsame Krankheit eintrug und derentwegen er sich nur selten in der Öffentlichkeit zeigte.
Mir kam sofort der Gedanke, dass ich wohlmöglich einen vampirischen Leidensgenossen vor mir hätte, und fühlte mich ihm darum gleich auf das Engste verbunden.
Ich traf ihn stets nur in der Verschwiegenheit der Nacht und reichte, was er gedruckt hatte, an Mittelsmänner weiter, die ebenfalls im Schatten lebten, weil sie die Verfolgung durch die Gendarmerie fürchten mussten.
Eines Nachts fand ich ihn halb nackt und verzweifelt auf seinem Lager vor, er salbte seine Geschwüre und weinte dabei vor Schmerzen.
»Keiner ahnt, was ich leide, seit meiner frühesten Kindheit leide. Ich habe Medizin studiert, mich in der Schweiz zum Arzt ausbilden lassen, um Heilung oder doch wenigstens Linderung für dieses Gebrechen, was mich so brutal vom Leben ausschließt, zu f inden. Ich bin gescheitert! Es gibt keine Medizin dagegen.«
Er sprang auf und ging mit wilden Schritten in der Kammer herum. Marat war von eher kleiner Statur mit schlankem Körper und Gliedern, sein Haar war schwarz und voll, und in seinem Gesicht faszinierten neben einer schmalen, scharfen Nase vor allem die großen dunklen Augen mit schweren, hängenden Lidern und die dichten Brauen, die er wohl dem sardischen Zweig seiner Familie zu verdanken hatte.
Er verhielt seinen unruhigen Lauf, fasste sich mit beiden Händen an den Kopf und sagte mit seiner eindringlichenStimme, die jede seiner Reden zu einem rhetorischen Glanzlicht machte: »Dieser Kopf ist einer der wichtigsten Köpfe der Revolution! Er ist dazu gemacht, kühne Ideen zum Wohle des unterdrückten Teils der Menschheit zu entwickeln! Er ist genial. Aber dieser Körper ist verflucht durch diesen Aussatz und macht es mir nahezu unmöglich, selber unter die Menschen zu gehen und ihnen persönlich zuzurufen: Sprengt eure Ketten! Erschlagt eure Unterdrücker! Enthauptet die Fürsten und ihre Günstlinge!«
Er ließ sich erneut auf sein Lager fallen, drehte sich auf den Bauch und nässte mit seinen Tränen das Kissen.
Ich nahm die Salbe und begann sanft ein Geschwür auf seinem Rücken damit zu bestreichen. Dabei erzählte ich ihm, dass auch ich das Licht meiden müsse, weil die
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