Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle
vergessen, dass trotz des Sonnenscheins über weiten Teilen der Stadt – ähnlich wie in Berlin – eine Dunstglocke hing, die vom Qualm aus unzähligen Industrieschornsteinen und Privatkaminen herrührte und sich überall niederschlug. So natürlich auch in den Zimmern und Wohnungen, wenn man deren Fensternicht ständig geschlossen halten wollte, was nicht eben anzuraten war, weil dann die sich stauende Feuchtigkeit Wände und Möbel und was immer sich in den kleinen Räumen befand, mit Schimmel überzog.
Genauso war es auch in unserem Quartier und wir fragten uns, ob es nicht vielleicht gesünder wäre, unter einer der feudalen neuen Seinebrücken wie dem Pont Alexandre III. zu nächtigen, wie es viele der hier Clochards geheißenen Bettler taten.
Als wir dann jedoch bei einem unserer Spaziergänge durch das am Seineufer in Gips und Pappmaschee wie Kirmesbuden aufgebaute alte Paris sahen, wie rigoros die französische Gendarmerie ihre Uferpromenaden auch von »menschlichem Abfall« zu säubern pflegte, ließen wir den Gedanken ganz schnell fallen.
Ich teilte mir – der Not gehorchend – geschwisterlich ein Zimmer mit Friedrich, und Vanderborg logierte zusammen mit dem Großen Pilati. Das mag beengt klingen, war aber tatsächlich schon ein recht großzügiger Komfort, denn in den kleinen Hotels des Viertels dominierten Vier- und Mehrbettzimmer wie in einem Asylum.
Noch am späten Abend begab ich mich mit Friedrich auf eine erste Erkundungstour zum Weltausstellungsgelände. Ich war außerordentlich aufgeregt und neugierig. Wir fuhren mit der elektrischen Schienenhochbahn und erlebten die von innen farbig beleuchteten Wasserspiele mit einer 29 Meter hohen Fontäne und etlichen Kaskaden am Trocadero. Dahinter erhob sich das atemberaubend effektvoll illuminierte Palais de l’Electricité , das eine glitzernde, filigrane Eisenskulptur aus unzähligen Sternen krönte. Es war klar, dass wir Vanderborg alsbald hierherführen mussten. Denn ein Besuch in diesem Elektrizitätspalast würdezweifellos ein Höhepunkt seines Forscher- und Erfinderlebens werden.
Wir ließen uns berauschen von der märchenhaften Kulisse, die einem riesigen Illusionstheater glich, und gingen wie staunende Kinder von einer Attraktion zur nächsten, bis wir schließlich auf der Avenue Nicolas II. zwischen den beiden Kunstpalästen, dem Grand und dem Petit Palais, Hand in Hand flanierten, wie es anscheinend halb Paris an diesem Abend tat.
Die andere Hälfte tummelte sich in den Vergnügungslokalen und engen Gassen des Montmartre, wo bei unserer Rückkehr nach Mitternacht fast kein Durchkommen mehr war. Wir quetschten uns am Fuße der Butte auf den Boulevards zwischen der Place Pigalle und der Place Blanche durch die Massen und sahen fasziniert mit Pelz und Schmuck behängte Menschen in das von einer weithin sichtbaren rot beleuchteten Mühle auf dem Dach gekrönte Moulin Rouge drängen.
»Da müssen wir auch hinein«, meinte Friedrich, griff mir um die Taille und schwang mich zu den aus allen Richtungen auf uns eindringenden Akkordeonklängen im Takt der Musettewalzer über das Pflaster. Freilich war es in diesem wirren Tönemix kaum möglich, einen gemeinsamen Rhythmus zu finden, und so brachen wir ab und beschlossen, am nächsten Abend eines der vielen Tanzlokale aufzusuchen.
Wir kamen am Chat Noir vorbei, wo sich laut Friedrich viele Künstler zu treffen pflegten, und an der alten Moulin de la Galette , in deren Umfeld sich leicht bekleidete Damen feilboten. Endlich fanden wir die Gasse, in der sich, schon auf dem Hügel gelegen, die Mietskaserne mit unserer Unterkunft befand.
Vanderborg und der Große Pilati hatten sich offenbar ebenfalls von der Musik herauslocken lassen. Jedenfalls waren sie nicht auf ihrem Zimmer.
Fast juckte es uns, ein weiteres Mal loszuziehen, aber mir steckte die lange Anreise noch in den Knochen und so legten wir uns zu Bett und ich kuschelte mich in Friedrichs Arm.
Er küsste mein Haar und streichelte mein Gesicht.
»Schlaf gut, Schwesterlein«, sagte er sanft. »Morgen wird nicht gestorben sein!«
Ich schlug noch einmal die Lider auf und sah unmittelbar vor mir seinen schönen, schlanken Hals, und es war kaum zu ertragen, wie sehr es mich danach verlangte, ihn zu küssen. Aber ich bezwang meine Begierde, schloss die Augen wieder und wisperte: »Du hast recht, wir wollen leben, morgen und für alle Zeit.«
Vanderborg und der Große Pilati hatten die Nacht durchgefeiert und wankten erst in der
Weitere Kostenlose Bücher