Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle
plagt, es sei eine Migräne verbunden mit der Hysterie der Frauen. Das hat Akzeptanz.«
Friedrich lachte. »Du raffinierte kleine Lügnerin! Aber er wird es schlucken, denke ich. Es wird ihm lieber sein als der Verdacht, selber Schuld an deiner Veränderung zu tragen oder wohlmöglich eine unbekannte Seuche im Haus zu haben.«
Ich stieß ihm kräftig gegen die Brust und sagte dabei: »Dann pass nur auf, dass du dich nicht ansteckst!«
Und als er weglief und hinter dem Esstisch Deckung suchte, jagte ich ihn und rief übermütig: »Buhuuuuuu… ich bin die Pest … die Cholera bin ich … wenn ich dich kriege, bist du tot!«
Ruckartig blieb er stehen, drehte sich zu mir herum und ich prallte im vollen Lauf gegen ihn. Er umschlang mich mit den Armen und drückte mich so fest an sich, dass ich in Atemnot geriet und hilflos mit den Beinen strampelte.
»Hab ich dich, Schwesterlein?«, sagte er mit dumpf verstellter Stimme. »Lass uns die Nacht durchtanzen, denn morgen schon könnt gestorben sein!«
Er lachte, lockerte seinen Griff und sang mit seinem hellen Bariton: »Morgens, wenn die Hähne kräh’n, woll’n wir nach Hause geh’n …«
Und weil es ein altes Volkslied war, das vor ewigenZeiten schon gesungen wurde, vollendete ich: »Brüderlein, Brüderlein … es wird fein unterm Rasen sein.«
Wir starrten uns einen Moment wortlos an. Friedrich sichtlich fassungslos und ich neugierig auf das, was nun wohl geschehen würde, unweigerlich geschehen musste, da es geradezu greifbar erotisch knisternd in der Luft hing. Aber es geschah nicht.
Es blieb bei Friedrichs Griff nach meiner Schulter, dann trat Vanderborg ins Esszimmer und wir fuhren auseinander wie ein ertapptes Liebespaar.
In Vanderborg hatte die Szene großes Misstrauen geweckt und auch Hansmann erfüllte ein gewisser Argwohn, was die innige Nähe zwischen Friedrich und mir betraf.
So war es gut, dass Vanderborg tatsächlich ein Engagement in einem Pariser Varieté für den Großen Pilati arrangieren konnte, was für hinreichende Ablenkung sorgte.
Friedrich und ich redeten ihm so lange zu, bis er sich endlich geschlagen gab und uns auf die Reise mitnahm.
»Das wäre ja auch unverzeihlich gewesen, wenn er ohne uns zu diesem Völkerfest gefahren wäre«, sagte Friedrich triumphierend, küsste mich auf die Wange und schwang mich in einem spontanen Galopp durch den Salon.
»Liebste, wir werden eine traumhafte Zeit in Paris haben und du wirst danach ein neuer Mensch sein.«
P aris wurde ein Desaster, aber das ahnten wir noch nicht, als wir Anfang Oktober am Gare de l’Est ankamen.
Ich war erschöpft von der langen Zugfahrt, die verglichen mit einer Kutschfahrt zwar sehr viel komfortabler, aber trotzdem recht anstrengend war. Kaum hatten wir jedoch in der Abenddämmerung den Bahnhof verlassen,fühlte ich mich sogleich wieder hellwach und überwältigt von dieser Stadt, was sowohl die Illumination und die Menge und Pracht der Gebäude anging, als auch die Vielzahl der Viertel und Straßen und natürlich der Menschenmassen, die sie bevölkerten.
Letztere bildeten zudem ein derartig buntes Gemisch, dass ich aus dem Staunen nicht mehr herauskam und tatsächlich beim Anblick einer leibhaftig frei in einer Straße herumlaufenden Negerfamilie einen mehr als ungebührlichen Ausruf tat und, Friedrich am Arm zerrend, mit dem Finger auf sie deutete, wofür ich mich sogleich schämte.
Aber das war nur der Anfang all des Erstaunlichen, was mir in dieser unglaublichen Stadt noch begegnen sollte. Natürlich wurde das bunte Menschengemisch aus aller Herren Länder vor allem durch die Weltausstellung verursacht, die tatsächlich ein Völkerfest zu sein schien, zu dem, wie man hörte, Millionen von Menschen aus aller Welt angereist waren. Auch gab es zeitgleich neben der Weltausstellung noch die zweiten Olympischen Spiele der Neuzeit, an denen ebenfalls viele Völker der Erde teilnahmen.
Ehe wir also überhaupt in die Nähe des Weltaustellungsgeländes kamen, begegneten uns so viele interessante und aufregende Dinge, wie Estelle und selbst Friedrich sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen hatten. Sogar Vanderborg und der wirklich weit gereiste Große Pilati ließen sich alsbald von Paris und seinem Charme einfangen.
Mir ging es, ehrlich gesagt, nicht anders, dabei kannte ich Paris, fand es aber sehr verändert vor.
Dort, wo sich ehemals die alte Feste der Bastille befunden hatte, war nun ein großer, leerer Platz, die Place de la Bastille , auf dem eine hohe
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