Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle
auf den breiten Hebel legte. Er trat zurück, warf noch einen kontrollierenden Blick auf die Maschine und schaute dann zum Himmel hinauf.
»Jetzt!«, sagte er. »Drück den Hebel herunter, Estelle! Rasch! Möge das Glück mit uns sein!«
Estelle hatte noch die Hand am Hebel, als ein Blitz herniederfuhr, der alle bisherigen Blitze an Leuchtkraft überstrahlte. Ein ohrenbetäubender Donnerschlag brachte ihr Trommelfell fast zum Platzen, und licht- und lärmumtost sank sie zu Boden, wo sie reglos liegen blieb.
Was aber niemand sah, war, dass in der unglaublichen Energie, die der Blitz und die Maschine gleichzeitig freisetzten, ein elektromagnetisches Feld entstand, das sekundenlang die Naturgesetze aus dem Lot brachte. Für die Spanne eines Wimpernschlags kreuzten sich auf dem endlos gewundenen Band der Zeit unsere Seelen, und während die von Estelle zusammen mit meinem Körper im Feuer des Blitzes verglühte, fuhr die meine in ihren jungen Leib. Ich erwachte zu neuem Leben – aber um welchen Preis!
D as Erste, was ich in meinem neuen Körper wahrnahm, war prasselnder Regen und die sich überschlagende Stimme eines Mannes.
Verwirrung und Panik hing in der Luft.
»Estelle, o mein Gott! Hilfe! So kommt doch zu Hilfe! Meine Tochter, sie wurde vom Blitz getroffen, rettet sie ... Ist denn niemand da, der uns helfen kann? Hilfe!«
Es war Estelles Vater, Jakob Vanderborg, der sich fast hysterisch über mich warf, seinen Mund auf meine Lippen presste und mir seinen abscheulichen Atem einblies. Später begriff ich, dass es eine Notfallmaßnahme war, der Versuch, mich durch Mund-zu-Mund-Beatmung wiederzubeleben. Ein widersinniges Unterfangen, denn ich war seit Jahrhunderten nicht so lebendig wie gerade jetzt, in diesem Augenblick, wo ich im Körper der wunderschönen Estelle Asyl gefunden hatte und zu neuem Leben erwachte.
Ich schlug die Augen auf und sah im schwachen Schein der Laterne, die Friedrich über uns hielt, das zerfurchte Gesicht von Estelles Vater, das sich viel zu nah an dem meinen befand und aus dem mir noch immer sein übel nach Tabak riechender Atem entgegenschlug. Der Hut war ihm vom Kopf gefallen und das Haar, welches er auf Künstlerlänge trug, hing ihm nass und wirr um den asketischen Schädel, aus dessen Gesicht die schmale, unglaublich lange Nase und die Wangenknochen scharf hervortraten. Sein gezwirbelter Schnurrbart vibrierte vor Erregung.
Immer noch erhellten Blitze die Nacht und ein heftiger Wind trieb den Regen, sodass er nicht senkrecht fiel, sondern waagerecht wie Peitschenhiebe auf die Haut prallte und sie mit Schmerz verbrannte.
Sekundenlang verharrten unsere Blicke, klammerten sich ineinander, bevor Vanderborgs Augen wie durch ein inneres Feuer entzündet aufleuchteten. Es war der Moment, in dem ihm bewusst wurde, dass noch Leben in der jungen Frau war, die er mit aller Gewalt dem Tode entreißen wollte. Er umschlang mich euphorisch mit seinen Armen, zogmich hektisch vom kalten, durchweichten Boden hoch, auf dem ich gelegen hatte, und presste mich an sich.
»Mein Kind, Estelle! Du lebst!«, stammelte er und schickte den Dank an seinen Gott gleich hinterher.
Friedrich, dem seine dichten schwarzen Haare ebenfalls klatschnass ins Gesicht fielen, was ihm einen erfreulich verwegenen Ausdruck gab, trat näher, stellte die Laterne ab und löste mich mit festem, aber sanftem Griff aus der Umklammerung von Estelles Vater.
»Vater, lasst sie, Ihr bringt die Schwester ja noch zu Tode. Das kann nicht der Sinn sein, dass sie den Blitzschlag überlebt und dann durch Euch erdrückt wird.« Er lachte jungenhaft und da sein Gesicht sehr nah bei mir war und mehrere Blitze gleichzeitig die Nacht erhellten, sah ich ein ironischen Glitzern in seinen Augen und in den Mundwinkeln ein nachsichtiges Lächeln. Der Vater ließ nun gänzlich von mir ab. Und während er sich vom schlammigen Boden erhob, stützte mich der Bruder und half mir auf.
»Seht, Vater, sie steht, sie ist unversehrt, nur eine Strähne ihres Haares ist vom Blitz versengt worden. Es ist wirklich ein Wunder.« Er zog mich in seine Arme und herzte mich, indem er meine nassen Wangen küsste. Wie warm doch seine Lippen waren in der Kälte dieser Nacht!
»Liebste, du musst einen Pakt mit den Göttern geschlossen haben«, neckte er mich dabei, während die letzten Donner in der Ferne dumpf verrollten. Der Regen ließ nun nach und Vanderborg versuchte die Fackeln wieder zu entzünden, welche der Platzregen gelöscht hatte. Es gelang ihm bei
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