Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Louisa
entsetzlich entstellte Gesicht einer Wasserleiche zu schauen.
»Es kann gut sein, dass dort unten im See tatsächlich eine Leiche liegt. Die Leiche eines kleinen blonden Jungen …« Er brach ab.
»Wer … wer hat ihn getötet?« Ein grauenvoller Gedanke begann mein Gehirn zu martern. »Du?«
Amadeus schüttelte den Kopf. »Nein, Louisa, nein … ich habe mich noch nie an einem Kind vergriffen.«
»Dann ist er ertrunken? Du weißt es doch. Sag es mir«, drängte ich. »Ich will es wissen!«
Und weil er schwieg, ahnte ich Schreckliches.
»Jemand aus unserer Familie?«
Er nickte. »Ich habe in der Chronik von einem blonden Jungen gelesen, den Amanda für ihre erste menschliche Blutmahlzeit getötet und im See versenkt hat. Bis dahin hatte sie ihren Blutdurst nur mit Tieren befriedigt, aber der Junge verletzte sich an einem Angelhaken, und als sie seinen Finger in den Mund nahm, um die Blutung mit ihrem Speichel zu stillen, da brach zum ersten Mal das, was sie für ein unheimliches Monster hielt, aus ihrem Inneren hervor. Es schlug den Jungen wie ein Beutetier, labte sich an seinem Blut und versenkte anschließend den leblosen, fahlen Körper im See.«
Ich starrte Amadeus fassungslos an. Wie konnte er so ruhig darüber sprechen?
»Es war Mord! Sie hat ein unschuldiges Kind ermordet! Ist das die Art und Weise, wie auch du dich ernährst?« Ich konnte nicht mehr an mich halten, hämmerte mit meinen Fäusten gegen seine Brust und schrie ihn an: »Wen ermordest du für deine Blutmahlzeiten?«
Amadeus ergriff meine Handgelenke und verhinderte so, dass ich weiter auf ihn einschlagen konnte.
»Mäßige dein Temperament, liebste Louisa«, sagte er ironisch. »Glaubst du im Ernst, ein erwachsener Vampir wie ich würde sich damit begnügen, Ratten auszusaugen, oder sich einreden, Rotwein wäre ein prächtiger Blutersatz? So viel Naivität traue ich dir, ehrlich gesagt, nicht zu. Ja, es kostet mich immer noch Überwindung, denn ich bin kein geborener Vampir, sondern auch einmal ein Mensch gewesen, und als solcher teile ich deine Skrupel sogar noch ein wenig. Doch ich brauche Blut zum Leben, und ich brauche gerade jetzt besonders viel davon, denn wenn ich es nicht bekomme, muss ich altern. Doch gerade für dich will ich mich jung erhalten.«
»Sag nicht, ich trüge die Schuld an deinen künftigen Bluttaten?!«
»Du bist nicht schuld, aber du profitierst natürlich davon. Unsere Liebe wäre so viel wärmer und befriedigender.«
Mir wurde schlecht. Ich drehte mich daher abrupt um und rannte zurück ins Haus.
Ich hasse dich, Amadeus, dachte ich dabei. Ich hasse dich und will dich nie mehr wiedersehen! Da er Gedanken lesen konnte, würde diese Botschaft hoffentlich bei ihm ankommen, und unsere Affäre war beendet.
Amadeus hatte mich offenbar tatsächlich auf telepathischem Weg verstanden. Jedenfalls hielt er sich in den nächsten Tagen und Nächten von mir fern und ich vermied natürlich ebenfalls seine Nähe. Zum See ging ich nur mit meinen Freunden, und auch sonst sah ich zu, dass ich mich nicht in einsamen Ecken alleine aufhielt. Es fiel mir zunächst sehr schwer, denn die Tage mit ihm im geheimen Gewölbe hatten eine intensive Bindung zwischen uns geschaffen, und seine Nähe fehlte mir nun. Trotz meiner Freunde. Es war mit ihm so ganz anders als mit ihnen … so … so viel romantischer … ernsthafter … bedeutsamer. Ja, alles, was da zwischen ihm und mir geschehen war, trug eine tiefe, unausgesprochene Bedeutsamkeit in sich, so als würde etwas Schicksalhaftes mit uns geschehen … Jede Geste, jede Berührung, jede Zärtlichkeit schien einen immanenten Sinn, eine Bestimmung zu haben.
Das Zusammensein mit meinen Freunden hingegen war unbeschwert und lustig, in gewisser Weise auch oberflächlicher, aber nach Tagen, die mit anstrengender Arbeit ausgefüllt waren, tat ein bisschen Blödelei bei einem Container Bier mal ganz gut.
Marc war in der Hinsicht allerdings eher zurückhaltend, saß zufrieden am Feuer und legte beschützend seinen Arm um mich. Alles war so angenehm und problemlos mit ihm und Blankensee eine wunderbar lohnende Aufgabe, die uns verband. Das bedurfte keiner überflüssigen Worte. Auch wenn das Wellnesshotel im Moment noch eher ein Hirngespinst zu sein schien, er war der Mann, mit dem ich mir eine Realisierung durchaus vorstellen konnte.
Auch an diesem Abend saßen wir draußen auf dem Vorplatz um ein Feuer aus alten Dachlatten herum, und eigentlich hätte die Stimmung sehr romantisch sein
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