Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Louisa
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»Ich fürchte, nein, nicht nach dem, was hier geschehen ist.«
Also nahm ich an.
Noch heute werden wir Gut Blankensee verlassen.
Ich schließe die Chronik der Vanderborgs, nachdem ich ein weiteres dunkles Kapitel hinzufügen musste.
Nun werde ich sie im geheimen Gewölbe in Estelles Sekretär verwahren.
Irgendwann werde ich wiederkommen, um sie fortzusetzen. Wenn nicht ich, dann vielleicht Hannah … oder …
Wer immer aus der Familie jemals dieses Buch finden wird und weiter daran schreibt, er möge es in einer Zeit tun, in der auf Blankensee wieder der Geist herrschen kann, in dem das Gut von Estelle geführt wurde: der Geist der Freiheit und der Liebe.
Lysette
Ich schloss die Chronik und strich liebevoll mit der Hand über den weichen Ledereinband. Es war, als würde ich die Spuren ertasten, welche die Hände meiner Ahninnen bei einer ähnlichen Geste dort hinterlassen hatten.
Welch ein kostbarer Besitz, dachte ich und legte sie vorsichtigzurück in das Geheimfach von Estelles Sekretär, dessen verborgenen Mechanismus mir Amadeus inzwischen erklärt hatte.
Wie schade, dass nichts über das weitere Schicksal meiner Mutter darin stand. Ich hätte zu gerne gewusst, wie sie in den Westen gekommen war. 1961, hatte sie gesagt, vor oder nach dem Mauerbau? Ich würde sie fragen, wenn ich sie in Potsdam besuchte.
Amadeus war noch nicht zurückgekehrt. Ich wollte nicht darüber nachdenken, was er wohl gerade tat. Ob er vielleicht Nahrung für sich suchte?
Er hatte mir den Durchgang offen gelassen, sodass ich das geheime Gewölbe verlassen konnte. Er musste sich sehr sicher fühlen auf dem Gut. Angesichts der Blutfehde mit Utz schien mir das ein wenig leichtsinnig. Aber vielleicht war das alles gar nicht so dramatisch, wie es sich anhörte, denn Utz war ja seit dem Zweiten Weltkrieg verschwunden und, wie ich hoffte, vielleicht längst zu Staub zerfallen.
Ich stöpselte mir also meinen iPod in die Ohren und wanderte mit Good Vibrations durch den verwilderten Gutspark. Es war fast Vollmond, und so reichte mir das Licht aus, um meinen Weg zu finden.
Unbewusst suchte ich nach dem Steinzeitgrab und fand es tatsächlich. Ein paar Wacholder standen dort geisterhaft, finster und stark duftend zwischen Glockenheide und Erika. Seltsam farblos wirkte alles im weißen Licht des Mondes.
Das Grab selbst war beeindruckend. Mächtige Steinplatten auf zwei Steinreihen, hoch genug, dass man hineinkriechen und darin gebückt stehen konnte. Ich roch das Blut und hörte die Schreie der Opfer … und fühlte, dass an diesem Ort nicht nur Recht gerichtet worden war.
»Niemand weiß, was die steinzeitlichen Erbauer hier getriebenhaben«, sagte plötzlich eine warme, sanfte Stimme hinter mir. »Vielleicht gab es blutige Ritualmorde, Menschenopfer … viel Schlimmeres, als unsere Familie hier jemals angerichtet hat.«
»Vielleicht auch nicht«, sagte ich erschöpft. »Wie auch immer, es ist ein mystischer Ort, und dass Lysette hier den Heimleiter getötet hat, ist nur gerecht.«
Amadeus sah noch bleicher aus als sonst, und er fühlte sich eiskalt an, als er mich mit einer tröstenden Gebärde in den Arm nahm. Auch seine Lippen waren eisig, als er mich küsste.
»Wo … wo bist du gewesen?«, konnte ich mich nicht zurückhalten zu fragen.
Er ließ mich los und wandte sich ab. »Das willst du nicht wirklich wissen.«
»Ne… nein«, stammelte ich und er ließ die Antwort auf meine Frage offen.
»Dies ist ein mythischer Ort«, sagte er stattdessen, »und das heißt, sein Energiefeld ist stark und verleiht dem Kraft, der es zu nutzen weiß. Komm, ich zeige dir etwas.«
Er bückte sich, kroch in das Grab und zog mich an der Hand hinter sich her. Erstaunt stellte ich fest, dass das Grab der Eingang zu einem unterirdischen Gang war, der in das geheime Gewölbe führte.
»Was hast du gedacht?«, meinte Amadeus scherzend. »Jeder Kaninchenbau hat mehrere Ausgänge!«
In dieser Nacht lagen wir wieder beieinander, aber seine Liebe war kalt und kraftlos und tröstete mich nicht. Dabei hätte ich so gerne in einem warmen Sinnenrausch alles vergessen, was mit Blankensee Negatives verbunden war. Ich hatte gehofft, dass, solange Amadeus bei mir war, auch in der tiefsten Dunkelheit immer noch genug Licht seinwürde, um den richtigen Weg zu finden. Doch ich war zum ersten Mal von ihm enttäuscht. Die Nacht war dunkler als je zuvor in meinem Leben. Würde die Flamme der Leidenschaft zwischen uns in Zukunft hell genug
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