Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Louisa
Latten auf die mächtigen jahrhundertealten Balken des Dachstuhls. Da zahlte es sich wirklich aus, dass Architekturstudenten und Bauingenieure vor dem Studium erst mal ein längeres Praktikum auf dem Bau gemacht haben mussten.
»Kommt ihr klar?«, rief ich nach oben. »Oder kann ich was mithelfen?«
Marc drehte sich um und schaute zu mir herunter. Er hatte lange Nägel im Mund und winkte daher nur stumm ab.
»Ich gehe dann mal kurz mit Mandy und Isabell zum See.«
Zustimmendes Nicken.
Wir winkten und machten uns vom Acker. Herrlich! Ich war meinen Freunden zwar grenzenlos dankbar, aber inzwischen störte mich manchmal der Verfall weniger als deren laute Geschäftigkeit. Der Gettoblaster röhrte auf maximaler Lautstärke den ganzen Tag, und wenn die Jungs nicht hämmerten und sägten, wurde gefeiert – mit viel Bier, denn Arbeit machte durstig.
Am liebsten würde ich mir ein Zelt direkt am See aufbauen, dachte ich, oder mir Sörens Bus ausleihen und mich damit gelegentlich mal absetzen. Aber das ging natürlich nicht. Erstens war es großartig, dass mich alle so unterstützten, und zweitens war es ja auch meistens ganz lustig.
Unten am See zogen wir auf dem Steg die Schuhe aus und ließen die Beine ins Wasser baumeln.
»… und die Beene häng’n in’t Wasser rin … «, krähte ich mit Isabell aufgekratzt einen alten Berliner Schlager.
Wirklich, Idylle pur. Natur … die Wärme des Frühsommers … zwitschernde Vögel, die vereinzelt noch hektisch dem Paarungsgeschäft nachgingen und uns im delirischen Sturzflug am Kopf vorbeisausten. Ein Haubentaucherpärchen schwamm auf dem See zwischen Enten und Blesshühnern. Wie schön, hoffentlich blieb es hier. Es war zu niedlich, wenn Vater oder Mutter den Nachwuchs auf dem Rücken spazieren fuhren, wie auf einer romantischen Barke.
Nur ganz leise hörte man in der Ferne noch das Hämmern und Lachen unserer männlichen Freunde.
Gut Blankensee als Wellnesshotel! Da schien Marc seinen Ehrgeiz dranzusetzen und es wäre ja auch wirklich großartig. Ob ich meine Mutter nicht doch mit dem Gut versöhnen konnte? Sie würde sich ganz prima an der Rezeption machen und hatte als Einzige von uns überhaupt Ahnung vom Hotelgewerbe. Doch bisher waren das nur Träume. Ach, wenn man doch einmal im Lotto gewinnen würde oder bei Günter Jauch die Million abstauben könnte. Aber da müsste man ja erst mal Lotto spielen oder sich bei RTL bewerben. Warum eigentlich nicht?
Wir spekulierten ein bisschen und fanden dann, dass es eigentlich der ideale Zeitpunkt für das erste Bad des Sommers wäre. Die Sonne prächtig, der See angenehm temperiert und die Jungs weit weg auf einem Dach! Nichts wie die Klamotten vom Leib gezogen und in die hellgrünen Fluten gesprungen. War das ein Spaß!
Doch dann geriet ich mit dem Kopf unter Wasser, und ehe ich wieder auftauchen konnte , stieß ein bleicher Arm zwischen Algen und Schilf hervor, griff nach mir und zerrte mich in die Tiefe. Das Wasser schlug über mir zusammen, und ich sank auf den Grund, wo ich in das zerfressene, aufgedunsene Gesicht eines toten Kindes sah …
Panisch strampelte ich um mein Leben und erreichte keuchend mit dem letzten Atem in meiner Lunge wieder die Wasseroberfläche. Mit wenigen Kraulstößen war ich am Steg und zog mich mit der restlichen mir noch verbliebenen Kraft hoch. Nur raus, raus aus diesem schrecklichen See!
Erst lachten meine Freundinnen, aber dann merkten sie, dass mit mir irgendetwas nicht stimmte.
»Was ist denn, Louisa?«, fragte Isabell als Erste. »Fühlst du dich nicht gut? Du bist so blass.«
Ich schluckte und rang nach Luft. »Im … im … See«, stammelte ich, »liegt eine Leiche …«
Natürlich nahm mir das keiner ab, und als die Jungs später todesmutig in den See sprangen und die Stelle, wo ich untergetaucht war, absuchten und nichts fanden, glaubte auch ich schließlich an eine Sinnestäuschung.
Aber in der Nacht, als alle schliefen, da zog es mich noch einmal wie magisch hinunter an den See. Ich hatte die Hoffnung, Amadeus zu treffen. Und tatsächlich stand er bereits dort. Eine dunkle, markante Silhouette vor dem im Mondlicht silbern schimmernden See. Es war fast Vollmond.
Natürlich erzählte ich Amadeus von dem Erlebnis.
Er ergriff schweigend meine Hände und küsste die Fingerspitzen. »Louisa, es wird dir wehtun, was ich dir jetzt sage. Willst du es trotzdem hören?«
Ich nickte. Nichts konnte schlimmer sein, als fröhlich in einem See zu baden und dann plötzlich in das
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