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Die dunkle Muse

Die dunkle Muse

Titel: Die dunkle Muse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Armin Oehri
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stark herabgesetzte Körpertemperatur, intervallartiges Absinken des Unterkiefers,
Bewegungen im Bauchbereich als Folge von Zwerchfellkrämpfen nach klinisch eingetretenem
Tod.«
    »Keine Leichenflecken?«
    »Hier steht
nichts davon.«
    »Hat man
einen Fersen- oder Pulsaderschnitt vorgenommen?«, wollte Albrecht wissen.
    »Keine Ahnung«,
sagte Julius. »Wozu macht man das?«
    »Wenn arterielles
Blut herausquillt, ist der Kreislauf noch intakt.«
    Noch einmal
überflog er das Blatt, nur um anschließend den Kopf zu schütteln. »Nein, nichts.«
    »Wer war
der Arzt? Virchow?«
    »Dr. med.
Laurens«, las Bentheim ab. »Sagt mir nichts.«
    »Mir aber«,
meinte Krosick erstaunt. »Ein alter Suffkopp, mit dem ich zwei oder drei Mal an
einem Tatort zu tun hatte. Dem gehört die Approbation entzogen.«
    »So schlimm?«
    Der Fotograf
nickte. Nachdenklich kratzte sich Bentheim an der Schläfe. »Warte hier«, meinte
er schließlich und schritt durch die zellenartigen Räume der Asservatenkammer, bis
er beim Buchstaben H angelangt war, wo er die Schachtel mit den Unterlagen zum Fall
Hackeborn fand. Er trug sie zu Krosick und stellte sie auf den Tisch. Als er die
Packschnur löste, fiel ihr Blick auf seine Tatortzeichnungen und die Akte des Untersuchungsrichters
mit Stempel vom 17. Juli.
    »Mach schnell!
Nicht, dass Dresky kommt.«
    »Hier ist
der Abschiedsbrief«, erklärte Julius, als er ein Blatt herausnahm. Er legte es auf
die Tischplatte, strich es glatt und schob den Arztbericht von Dr. Laurens daneben.
»Siehst du das geschwungene A, den schrägen Strich, der als i-Punkt dient? Das ist
dieselbe Schrift. Kein Wunder, dass Bissing nichts in dieser Richtung unternommen
hat. Er hätte gegen sich selbst ermitteln müssen.«
    »Das bringt
mich auf einen Gedanken, Julius.«
    »Welchen
denn?«
    »Wieso lässt
Bissing diesen Pfuscher an die Leiche, wenn er eine Koryphäe wie Virchow zur Verfügung
hätte?«
    »Weil er
den Herrn Monsieur Noirtier de Villefort kennengelernt hat«, murmelte Julius, dem
das Schreckliche, das Unglaubliche seines Verdachts beinah die Luft nahm.
    »Ich verstehe
nicht.«
    »Bücher
können gefährlich sein, Albrecht, sie bringen einen auf die schlimmsten Ideen. Erinnerst
du dich an Bissings Lektüre in den letzten Tagen und Wochen? Poe, Hugo, Dumas. Bei
allen werden Menschen bei lebendigem Leib begraben oder eingemauert.«
    »Du meinst
doch nicht …?«
    »Oh doch!«
    »Kaum auszudenken.
Das ist viel zu grausam.«
    »Wir sprechen
von Bissing, Albrecht, und für eine Wette braucht es bekanntlich immer zwei. Er
wollte mit dem Professor gleichziehen. Hier steht es schwarz auf weiß: Weder wurden
der Leiche warme Kataplasmen von Senf auf die Brust gelegt noch hat man mit Kampferspiritus
den Körper eingerieben. Es ist auch nichts davon erwähnt, dass man mit einer Vogelfeder
die Kehle des Professors gekitzelt oder ihm Ammoniakgeist unter die Nase gehalten
habe. Ich ziehe nur eine Schlussfolgerung: Goltz hatte gar keine Zwerchfellkrämpfe,
er war nicht tot. Er atmete noch!«
    »O mein
Gott, was sollen wir tun?«
    »Ganz einfach:
Jetzt holen wir uns zwei Schaufeln und warten, bis es dunkel ist.«

Achtundzwanzigstes Kapitel
     
    Sie verließen das Palais
Grumbkow und winkten eine Kutsche heran. Angeregt diskutierend bestiegen sie den
Wagen, und Julius Bentheim entgingen deshalb die zwei dunkel gekleideten Männer,
die ihnen in gemessenem Abstand auf ihren Pferden folgten.
    Sie kamen
überein, sich um Mitternacht vor Amalia Loschs Haus zu treffen. Die Offizierswitwe
hatte einen Garten, in dem sie leicht Schaufeln, Spaten oder andere Utensilien zum
Graben finden würden. Als sie vor der Mietskaserne hielten, klopfte der Fotograf,
der mehr mit der Welt in Einklang war, als es ein Mann in seinem jugendlichen Alter
eigentlich sein durfte, seinem Freund auf die Schulter und meinte: »Grüß Finchen
von mir. Und niemals vergessen: Fünf Bier sind ein Essen! Bereite dich gut vor,
Julius.«
    Filine Sternberg
erwartete ihn voller Ungeduld. Sie habe sich bereits Sorgen gemacht, erklärte sie
und wollte wissen, weshalb er so lange ausgeblieben sei. Der Tatortzeichner berichtete
von ihren Vorahnungen und schloss mit den Worten: »Dass Menschen bloß so böse sein
können.«
    Sie strich
ihm übers Haar und meinte: »Alle sind sie böse, das liegt uns im Blut.«
    »Das meinst
du nicht ernst, oder?«
    Filine seufzte.
»Ach, Julius, wenn du für einen Tag, einen einzigen Tag nur, den Ring des Gyges
hättest, der dich

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