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Die dunkle Muse

Die dunkle Muse

Titel: Die dunkle Muse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Armin Oehri
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Die Knöchel
seiner Finger stachen weiß hervor. Bissings Blick war stechend, als er wiederholte:
»Unrecht erleiden, Botho, ist besser, als Unrecht tun!«
    Er hatte
abgehackt gesprochen, jede Silbe einzeln betonend, und Bentheim merkte, wie Goltz
unter den Taktschlägen zusammenzuzucken schien. Der Professor beugte sich vornüber,
riss die Augen auf, während seine Linke von der Kathederplatte abrutschte und er
mit dem Kinn hart auf das Holz aufschlug. Tumultartige Szenen folgten, als der massige
Leib zur Seite sackte. Umstellt von mehreren schwarz gekleideten Herren, krümmte
sich Botho Goltz auf dem Boden, wobei sich das Rot seiner Haare zwischen den vielen
Beinen wie ein Fuchs ausnahm, der sich des Nachts im Unterholz verborgen hält.
    »Zu Hilfe!«,
rief John Retcliffe geistesgegenwärtig. »Ist ein Doktor hier?«
    »Ich bin
Arzt«, antwortete jemand und bückte sich bereits zum Professor hinab. Er tastete
nach dem Puls und als er keinen fand, öffnete er das Hemd des Mannes, um mit einer
direkten Thoraxkompression fortzufahren. Er strich mehrmals über den Brustkorb hinweg,
rieb die Finger von der Herzgrube nach der Brust hin und hielt schließlich nach
mehreren Versuchen ermattet inne.
    »Der Herr
gibt, der Herr nimmt«, meinte der Mann lakonisch, als er aufstand und auf den reglosen
Professor hinabsah, dessen rosafarbener Schmerbauch die peinlich berührten Umstehenden
an ein Mastschwein erinnerte.

Siebenundzwanzigstes Kapitel
     
    Zu Beginn der neuen Woche überschlugen
sich die Sensationsblätter mit Spekulationen über den unerwarteten Tod des Professors.
Die Nachrufe auf ihn fielen kurz und nüchtern aus und man musste ein regelrechter
Dummkopf sein, um eine gewisse Häme in ihnen zu übersehen. Auffallend mehr Zeilen
hingegen nahmen die Mutmaßungen und Allgemeinplätze ein, die in pathetischen Worten
die Rache Gottes beschworen und von ausgleichender Gerechtigkeit sprachen.
    Am folgenden
Donnerstag schlenderten Julius Bentheim und Albrecht Krosick über den Campus. Es
war das erste Mal, dass sie sich seit dem denkwürdigen Wochenende wieder sahen,
und ohne weiter darüber nachzudenken stimmten sie dem Tenor der meisten Kommentatoren
zu.
    »Verdient
hat er es allemal«, meinte der Fotograf.
    »Was es
wohl war?«
    »Am Montag
lief mir Bissing über den Weg. Ich habe ihn darauf angesprochen. Er war in Eile,
erwähnte jedoch etwas von Kardioplegie und angeborener Herzschwäche.«
    »Plötzlicher
Herzstillstand?«
    Krosick
wich einer Gruppe Studenten aus, als sie auf den Haupteingang zuhielten, und meinte:
»Er war ein Genussmensch, ein dicker, lasterhafter Falstaff. Du hast doch seinen
geblähten Ranzen gesehen, Julius. Bei solchen Leuten kommt der Gevatter eben schneller
auf Besuch als bei anderen.«
    Sie unterhielten
sich noch, als sie das Gebäude bereits betreten und in einem der düsteren Hörsäle
verschwunden waren. Der Raum war beengt und stickig, und Julius kam eine Bemerkung
Heinrich Heines in den Sinn, der dies schon vor etlichen Jahren in einem Spotttext
bemängelt hatte. Zu allem Unglück ging die Fensterfront auf die Straße hinaus und
man konnte schräg gegenüber das Opernhaus erkennen, das für Julius in manchen Momenten
lästige Verlockung war und ihn vom Unterricht abschweifen ließ.
    Die Reihen
füllten sich allmählich und ein bleicher, hagerer Student, den Julius auch von einem
Zeichenkurs her kannte, den sie vor einem Jahr besucht hatten, setzte sich neben
die Freunde.
    »Schon das
Neueste gehört?«, flüsterte er verschwörerisch, als der Dozent erschien und mit
der Vorlesung begann.
    Bentheim
beugte sich zu ihm hinüber.
    »Nein.«
    »Auf unserer
alten Kunstakademie liegt ein Fluch«, sagte er mit gedämpfter Stimme und in schalkhaftem
Ton. »Erst hat es den Professor erwischt, nun den Hausmeister.«
    »Er ist
tot?«
    »Gott bewahre!
Nein. Aber im selben Zimmer, wo Botho Goltz in die Grube fuhr, bekam er Herzrasen
und verlor für kurze Zeit das Bewusstsein. Er war gerade dabei, während der Pause
die Abfalleimer zu leeren, als er plötzlich vornüberkippte. Muss für die Anwesenden
regelrecht ein Schock gewesen sein, so kurz nach dem Tod des Professors.«
    »Welcher
Eimer?«, entfuhr es dem Tatortzeichner. Er hatte lauter gesprochen, als er eigentlich
gewollt hatte, und der Dozent unterbrach für einen Augenblick seinen Vortrag, um
dem desinteressierten Studenten einen strafenden Blick zuzuwerfen. »Welcher Eimer?«,
wiederholte er leiser, aber deshalb nicht weniger

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