Die dunkle Schwester
kehrte wieder Totenstille ein. Tania öffnete die Augen, noch ganz benommen von der ausgestandenen Angst.
»Alles in Ordnung?«, fragte Edric besorgt.
Sie nickte und lächelte ihn an. »Mir geht’s gut«, sagte sie tapfer. »Wohin gehn wir jetzt?«
»Folge mir«, sagte Edric. »Es ist nicht mehr weit.«
Er führte sie quer durch den Saal zu einem Seitengang, von dem eine Steintreppe abzweigte. Die Tür war eingeschlagen und die Splitter lagen über den Boden verstreut. Tania starrte auf die engen dunklen Stufen, die nach unten führten. Ein rötlicher Schimmer drang von unten herauf.
»Die Tür wurde von der anderen Seite aufgebrochen«, stellte Edric fest. »Das bedeutet, dass der Hexenkönig auf diesem Weg hinausgelangt ist, nachdem er befreit wurde.«
Tania stand schaudernd vor dem düsteren Treppenschacht.
»Wartet hier auf mich«, sagte Edric zu den Prinzessinnen. »Ich muss mir das erst einmal ansehen.« Dann verschwand er durch die Tür, eine schwarze Silhouette in dem rötlichen Schein. Ein paar Sekunden später drang seine Stimme von unten herauf. »Kommt!«, flüsterte er. »Die Luft ist rein.«
Tania ging als Erste. Edric stand an der Treppe und hielt eine lodernde Fackel in der Hand. Rechts und links von ihm dehnte sich ein langer niedriger Steingang aus, von glimmenden Fackeln gesäumt, die in rußigen Haltern an den Wänden steckten.
»Wir müssen vorsichtig sein«, wisperte Sancha. »Wenn unser Vater hier ist, wird er vielleicht bewacht.«
Angestrengt lauschend schlichen sie den Gang entlang, Edric ging mit der brennenden Fackel an der Spitze, dann kamen Tania, Sancha und Zara. Nach einer Weile erreichten sie eine schwarze Tür, die halb zertrümmert und verbogen in den Angeln hing. Tania wusste, wo sie waren: Das hier war das Diamantene Tor, der Eingang zum Verlies. Nur ein Zauber konnte das Steintor aufgesprengt haben, eine tödliche Macht, die jahrhundertelang an den düsteren Ort gebannt gewesen war, der dahinterlag. Schaudernd dachte Tania an das endlose Labyrinth der Gänge, an die Steinzellen mit den niedrigen Deckengewölben und an deren schrecklichen Insassen. »Wenigstens sind keine Wachen am Tor«, flüsterte Edric. »Das ist gut.«
»Ich kenne den Plan, nach dem das Verlies erbaut wurde«, verkündete Sancha. »Zwar ist es ein Labyrinth, doch eines, das einer strengen Logik folgt. Haltet euch hinter mir und ich werde euch hinausführen.« Ihre Augen funkelten im Fackelschein. »Und fürchtet nichts, Schwester n – wenn unser Vater hier unten ist, werden wir ihn finden.«
Tania folgte Sancha durch das Diamantene Tor und erschauderte, als ihr die eisige Kerkerluft über die Haut strich. Schwefeldämpfe stiegen ihr in die Nase, ein Geruch, der ihr von jenem Tag her vertraut war, an dem sie Edric aus dem Bernsteingefängnis gerettet hatte. Der üble Gestank hatte sich gebildet, als die Bernsteinkugel zerbrochen war, und hatte sich im ganzen Verlies ausgebreitet.
Sie kamen jetzt in das erste Gewölbe, das aus schmalen, niedrigen Kammern mit tiefen Mauernischen bestand. Als Tania das letzte Mal hier gewesen war, hatten sich in vielen dieser Räume Bernsteinkugeln befunde n – einige waren schwarz von Alter gewesen, während jüngere Exemplare noch einen schwachen orangefarbenen Schimmer besessen hatten, der durch die Verkrustungen drang. In manchen Kugeln waren noch die Gefangenen zu sehen gewesen, und Tania erschauderte bei dem Gedanken an die zusammengekauerten Gestalten, die ihr mit leeren Augen aus dem Glas entgegenstarrten.
Aber jetzt waren alle Bernsteinkugeln fort, nur ein paar gelbliche Splitter knirschten unter ihren Füßen und der allgegenwärtige Gestank biss in ihre Nasen.
»Was ist das für ein Geruch?«, fragte Sancha.
»Schwefel«, sagte Zara.
»Nein, da ist noch ein anderer Geruch«, beharrte Sancha. »Schlimmer als das.«
Tania schnüffelte. Sancha hatte Recht. Ein Geruch von Verwesung lag in der Luft, der alles überlagerte und ihr fast den Magen umdrehte.
Mit angehaltenem Atem gingen sie weiter, langsamer jetzt, und der Gestank wurde dermaßen übermächtig, dass Tania das Gefühl hatte, buchstäblich hineinzuwaten wie in Sumpfwasser.
»Ich ertrage das nicht«, stöhnte Zara. »Lasst uns umkehren, bitte!«
»Nein, wir müssen weiter.« Sancha hielt sich mit einer Hand Mund und Nase zu. »Wir kommen jetzt bald zu den letzten Kerkern.«
»Pst!« Edric hielt die Hand hoch und blieb an einer Biegung stehen, von der mehrere Gänge abzweigten. »Hört
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