Mordwoche (German Edition)
- 1 -
Die letzten Stunden waren zäh dahingekrochen. Sie hatte sich von einer auf die andere Seitegewälz t und kaum Sch laf gefunden. Gerda König war kein nachtragender Mensch und von Natur aus auch mit einem überaus sonnigen Gemüt gesegnet, aber das ging dann wirklich zu weit. Was wollte man ihr da eigentlich unterstellen? Dass es in ihrem Laden nicht mit rechten Dingen zuging? Dass sie krumme Geschäfte machte? Und das alles nur wegen ein paar Tuben Shampoo! Diese Griffelspitzer in ihren Amtsstuben hatten doch gar keine Ahnung davon, wie die Dinge in einem Friseur-Salon so liefen. Wenn diese Bürokraten sich tatsächlich mal hierher verirrten anstatt zur Discounter-Kette „Hip-Hair“ zu gehen, dann leisteten sie sich höchstens einen Trockenhaarschnitt, der auch lieber etwas kürzer ausfallen durfte, damit er länger hält. Und diese Bürschchen hatten ihr, Gerda Maria König, vor zwei Tagen einen Brief geschickt, in dem sie ihr mitteilten, dass die Menge an Haarwaschmittel, die sie bei der Steuerprüfung in den Büchern angegeben fanden, nicht zur Anzahl der abgerechneten Kopfwäschen passte. Entweder hatten die Mitarbeiterinnen im Salon König, einem Familienunternehmen, das bereits in der vierten Generation geführt wurde und einen untadeligen Ruf genoss, die Flüssigseife verschwendet oder die Kunden, die ebenfalls in den Genuss einer Haarwäsche mit Massage gekommen waren, wurden schwarz bedient. Das war jedenfalls die Meinung der Steuerprüfer. So eine Frechheit! Schon der Gedanke an diese Unterstellung beschleunigte den Puls von Gerda König. Sie konnte jetzt unmöglich noch länger liegen bleiben. Vielleicht würde es auch helfen, aufzustehen. Nach einem Kaffee sähe die Welt bestimmt wieder anders aus.
Ihr Mann hatte sich zwar ebenso entrüstet über das Schreiben, aber nachdem er seinem Ärger mit ein paar kräftigen Flüchen und Verwünschungen in Richtung Finanzamt Luft gemacht hatte, war die Sache für ihn anscheinend erledigt. Jetzt schlief er jedenfalls tief und fest und hatte sich beim Schnarchen auch nicht von dem unruhigen Wälzen seiner Frau stören lassen. Frau König angelte sich ihre Brille vom Nachttisch und tastete mit ihren nackten Füßen nach den Hausschuhen, die sie am Abend bereits so hingestellt hatte, dass sie morgens direkt in die warmen Fellslipper schlüpfen konnte. Es war deutlich kälter geworden. Durch das Fenster, das während der Nacht immer auf Kippe stand, strich ein frostiger Morgenwind und Gerda König schlich schnell aus dem Schlafzimmer. Sollte Otto ruhig noch ein wenig schlafen. Es war gestern Abend sicher spät geworden. Sie hatte bereits geschlafen, als er nach Hause kam.
Adriano Felice, der Inhaber vom Venezia hatte die Kollegen des Gewerbevereins zu einer dringenden Sitzung eingeladen, weil er darüber abstimmen lassen wollte, seinem alten Freund Karl Merz die goldene Ehrenmedaille des Vereins zu verleihen. Routinemäßig wurde diese höchste Auszeichnung für fünfzig Jahre Mitgliedschaft überreicht und für außerplanmäßige Würdigungen mussten die Vereinsmitglieder zur Abstimmung zusammenkommen. Gerda konnte diesen Versammlungen nichts abgewinnen. Hier trafen sich die erfolgreichen und die noch auf Erfolg hoffenden Geschäftsleute von Bärlingen, um sich wahlweise gegenseitig zu bestätigen wie gut sie im Geschäft waren oder aber um gemeinsam darauf zu schimpfen, dass sowieso alles den Bach runterging, seit das große Einkaufszentrum im Gewerbegebiet der Kleinstadt eröffnet hatte. Diese Männerabende mied sie und war froh, dass Otto nicht auf ihre Begleitung bestand. Ihr reichte es dann, beim Frühstück die Zusammenfassung zu hören. Den neuesten Tratsch bekam sie aktueller und dramatisch interessanter sowieso von ihren Kundinnen serviert. Ihr Mann dagegen ging ganz gern zu diesen gesellschaftlichen Ereignissen, weil sie nichts von den gestelzten Veranstaltungen der Bärlinger „High Society“ hatten, zu denen Königs regelmäßig geladen waren. Für die Treffen des Gewerbevereins musste sich Otto König nicht in einen Anzug zwängen, in dem er sich immer verkleidet vorkam und hier durfte man auch mal über einen deftigen Witz lachen. In der spaßbefreiten „besseren Gesellschaft“ prahlten die, die es angeblich geschafft hatten, lieber mit ihren Urlauben, Kindern oder wenn die sich nicht zum Angeben eigneten, ganz platt mit der letzten Gehaltserhöhung.
Das Wort „Gehaltserhöhung“ kam bislang im Wortschatz von Gerda König
Weitere Kostenlose Bücher