Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
geschlossen, was ihn in tiefste Verblüffung stürzt. Er stellt sich tausend Fragen, beschließt aber, im Viertel zu bleiben, lässt sich auf der Terrasse einer Kneipe am Boulevard Saint-Germain nieder und genießt ein kühles Bier. Eine Stunde und sechs Gläser Bier später kehrt er in die Rue de Seine zurück und stellt erleichtert fest, dass die Fensterläden der Wohnung seiner Beute jetzt geöffnet sind. Er verfährt nach der gleichen Strategie wie in der Rue Monsieur-le-Prince. Mit seinem Generalschlüssel entriegelt er den elektrischen Türöffner. Die junge Frau wohnt in der dritten Etage ohne Aufzug. Schweigend erklimmt der Mann immer zwei Stufen auf einmal. Als er den Treppenabsatz erreicht, ist er nicht einmal außer Atem. Er hält die Luft an, legt sein Ohr an die Tür und lauscht lange. Er hört, wie jemand sich in einem Zimmer bewegt, und erkennt verschiedene Geräusche. Schließlich klingelt das Telefon, was dem Mann beweist, dass die junge Frau tatsächlich allein in der Wohnung ist. Sie spricht laut und lacht viel. Langsam steigt der Mann die Treppe hinunter und stellt sicher, dass der Schirm seiner Kappe das ganze Gesicht beschattet.
Zu Fuß und mit der Metro kehrt er nach Hause zurück. Die Hitze erschöpft ihn, und die ansteigende Spannung macht ihn nervös. Nachdem er harte Eier gegessen und sich lange kalt geduscht hat, packt er umsichtig seinen Rucksack für den nächsten Tag. Als Erstes kommen die Berufskleidung und seine Arbeitsutensilien hinein, anschließend folgt eine in ein Tuch gewickelte Schachtel mit hundert Einmalhandschuhen aus Latex – von meiner Verwaltung gestellt und daher vorschriftsmäßig , denkt er lächelnd –, ein mit Blei beschwerter Knüppel, eine Schachtel Präservative, ein beschriebenes Blatt Papier in einem Umschlag und eine Badehaube aus Gummi. Zum Schluss steckt er noch einen Spiegel von etwa dreißig Zentimeter Seitenlänge ein, den er vorsichtig in mehrere Stücke zerbricht.
Ehe er sich auf sein Bett legt, nimmt er seine Schmerztabletten ein. Er kreuzt die Hände im Nacken, schließt die Augen und erwartet den Schlaf und die Träume. Dabei vermeidet er es sorgfältig, an die kommende Woche zu denken, in der alles aus dem Lot geraten wird.
2
M ONTAG , 4. A UGUST 2003
Gegen acht Uhr morgens fuhr Ludovic Mistral gemächlich zum Quai des Orfèvres. Es herrschte kaum Verkehr, und die Hitze war noch erträglich. Zerstreut lauschte er den Nachrichten im Radio. Nach seiner schweren Verletzung – um ein Haar hätte er am eigenen Leib erfahren, ob es ein Leben nach dem Tod gibt – hatte er seit Mai wieder stundenweise gearbeitet und im Juli seinen Urlaub genommen. Aus diesem Grund betrachtete er diesen Augustanfang als die wahre Rückkehr in den Dienst.
Clara und Ludovic hatten den Juli in der Provence verbracht, Freunde besucht und ab und zu beim Jazz-Festival in Antibes vorbeigeschaut. Es war ein Juli gewesen, der für Mistral die endgültige Genesung bringen sollte. Die ersten Schlafstörungen waren während des Urlaubs aufgetreten. Zunächst hatte er nur Schwierigkeiten mit dem Einschlafen gehabt, später war er gegen vier Uhr morgens aufgewacht, hatte nicht mehr einschlafen können und sehnsüchtig darauf gewartet, dass der Morgen heraufdämmerte. Seine Müdigkeit hatte er mit Mittagsschlaf kompensiert und es vorgezogen, Clara nichts zu sagen. Er begründete die Schlafstörungen mit der großen Hitze, obwohl er ahnte, dass sie auch noch andere Hintergründe hatten, die er jedoch nicht kannte.
Ihre beiden Söhne waren im Süden geblieben und verbrachten die erste Augusthälfte bei Claras Eltern in der Nähe von Grasse, ehe sie zu Ludovics Eltern in die Gegend von Aix-en-Provence weiterreisen würden.
In den ersten beiden Augustwochen ist Paris ein relativ ruhiges Pflaster. Der ungewöhnlich flüssige Verkehr und die Gegenwart von Touristen sorgen für Urlaubsatmosphäre. Erst nach dem 15. August geht man bei der Polizei wieder richtig zur Tagesordnung über.
Gegen halb neun parkte Ludovic Mistral seinen Wagen im Innenhof des Polizeipräsidiums. Entgegen seiner Gewohnheit stieg er die ehrwürdigen Treppenstufen eine nach der anderen empor, ohne wie sonst zwei auf einmal zu nehmen. Zunächst schaute er im Sekretariat vorbei, um den voluminösen Stapel Post des Monats Juli in Empfang zu nehmen; dann machte er sich auf Begrüßungstour durch die Büros. Das Personal war spärlich gesät. Wie alle Abteilungen der Kriminalpolizei arbeitete auch die
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