Die dunkle Seite
Bremer humpelte hinterher. Die Hüfte würde es nicht mehr lange machen. Mittlerweile hatte sie alles über künstliche Hüftgelenke gelesen. Wahrscheinlich wußte sie mehr darüber als die Ärzte. Wie sollte sie aber einen Arzt an ihre Hüfte lassen, wenn er weniger über Hüftgelenke wußte als sie selber?
Es war eine einzige Sorge mit der Gesundheit.
»Ist es hier?« fragte der Polizist.
»Ja«, sagte sie schwer atmend. »Da ist ja sein Namensschild neben der Tür. Sie müssen nur hinsehen.«
»M. Üsker«, las der Polizist. Er steckte den Schlüssel ins Schloß und hielt plötzlich inne.
»Was ist?« fragte seine Kollegin.
»Riechst du das?«
»Was?«
»Komm mal näher.«
Sie trat neben ihn bis dicht vor die Tür und holte tief Atem. Frau Bremer hielt sich in respektvollem Abstand. Die Furcht kroch ihr noch mehr in die Knochen.
Die Polizistin verzog das Gesicht.
»Ja. Widerlich.«
»Was sagten Sie, Frau Bremer? Wie lange haben Sie Herrn Üsker nicht gesehen?«
»Eine Woche, schätze ich. Vielleicht weniger. So ungefähr.«
»Würde reichen«, sagte der Polizist in gedämpftem Tonfall zu seiner Kollegin.
Frau Bremer beugte sich ängstlich ein Stück vor.
»Wollen Sie nicht reingehen?«
»Doch.«
Der Beamte drehte den Schlüssel, und die Tür sprang einen Spalt auf. Ein unerträglicher, süßlicher Gestank drang ins Treppenhaus.
Frau Bremer wurde augenblicklich schlecht. Sie schnappte nach Luft und wich zurück.
»Scheiße!« keuchte der Polizist.
Im selben Moment war aus der Wohnung ein Scharren zu hören, dann knallte etwas von innen gegen die Tür. Die Polizistin kreischte auf, packte den Griff und zog heftig daran. Die Tür fiel wieder ins Schloß. Frau Bremer sah, daß der Mann seine Dienstwaffe zückte, und merkte, wie ihre Beine einknickten.
»Ruf das Einsatzkommando«, sagte der Polizist. »Schnell.«
Die Frau zückte ein Funkgerät.
Wieder rummste etwas gegen die Tür, und diesmal meinte Frau Bremer ein Geräusch zu hören wie von einem schreienden Kind.
»Kommen Sie, Frau Bremer. Kommen Sie mit.«
Willig ließ sie sich von dem Polizisten unter die Arme greifen und hinaus auf die Straße führen, wo sie sich nach Luft ringend an die Hauswand lehnte.
»Rrrrhhhgg ...« krächzte sie.
»Wie bitte?«
»Ich ... kriege keine ...«
»Warten Sie«, sagte der Mann mit einem Blick auf das Cafe Central schräg gegenüber. »Ich hole Ihnen ein Glas Wasser.«
18.15 Uhr. Menemenci
»Wann ist es passiert?«
Der Polizeiwagen schoß mit achtzig Sachen über den Barbarossaplatz.
»Der erste Befund ist unklar«, quäkte Krantzʹ Stimme aus dem Sprechfunkgerät. »Es kann einige Tage her sein, aber wie viele, darauf mag man sich hier nicht festlegen. Warum kommen Sie erst jetzt?«
»Wir sind erst jetzt verständigt worden.«
»Ja, das ist typisch. Die Drecksarbeit machen immer die anderen.«
»Ich bin sicher, ihr werdet genug Dreck für uns übriggelassen haben. In der Zentrale hieß es, der Tote sei ein Türke.«
»Keine Ahnung, ob sie da immer warten, bis die Nationalität feststeht, bevor sie einen rausschicken. Sie wissen natürlich, warum man Sie ausgewählt hat.«
Menemenci seufzte. Natürlich wußte er es. Als einziger türkischstämmiger Kommissar geriet er mit ermüdender Regelmäßigkeit an Fälle, in die Türken verwickelt waren, sei es als Opfer oder Täter.
Zwecklos zu erklären, seine Familie sei Ende der Vierziger nach Deutschland gekommen, Vorreiter der Einwanderungswelle. Daß er hier geboren und fünfundachtzig das letzte Mal in Istanbul war. Er fragte sich, was sie machten, wenn das Opfer Tibetaner oder Senegalese war. Hatten sie im Waidmarkt tibetanische Kommissare?
»In Ordnung«, sagte er. »Ich schalte ab. Wir fahren eben über die Roonstraße, in einer Minute sind wir bei euch.«
Vor dem Haus in der Lindenstraße saß eine alte Frau auf einem Stuhl und redete aufgeregt auf einen Polizisten ein. Mitglieder der Einsatztruppe in Kampfanzügen und Helmen standen um den Eingang versammelt, andere trugen Kisten mit Gegenständen in Plastikbeuteln nach draußen.
Es herrschte ein ziemliches Durcheinander. Die Straße war blockiert von eilig dahingeparkten Mannschaftswagen. Menemenci wuchtete seine drei Zentner aus dem Beifahrersitz und fragte sich, was an einem einzelnen Toten dran sein mochte, um einen Großeinsatz wie zu Baader‐Meinhof‐Zeiten auszulösen.
Krantz stand an einem der Streifenwagen und sprach in ein Funkgerät. Als er Menemenci sah, beendete er
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