Die dunkle Seite
übrigens noch nicht gefunden.«
»Großer Gott. Wie lange kann man so was durchziehen?«
»Irgendwann ist der Organismus so geschwächt, daß die Summe der Beeinträchtigungen zum Tode führt. Falls er an der Folter gestorben ist.«
»Sagen Sie schon, wie lange?«
Krantz legte die Stirn in Falten.
»Im Zweifel ein paar Tage. Aber das dürfte hier nicht der Fall sein. Schätzungsweise wenige Stunden, dann hat er ihn einfach verbluten lassen. Oder sie. Soll ja auch rabiate Frauen geben.«
Menemenci starrte auf den Leichnam. Es gab kaum eine Stelle an dem geschundenen Körper, die nicht der perfiden Kreativität des Mörders ausgeliefert gewesen war.
»Fingerabdrücke?« fragte er mutlos.
Krantz sah ihn an.
»Natürlich nicht.«
Menemenci schüttelte den Kopf.
Warum?
»Wir sind dabei, die Wohnung auszuräumen«, sagte Krantz, während er einem der Spurensicherer den Vorhang aufhielt, der mit einer großen Kiste nach draußen wollte. »Viel hat er nicht besessen.«
»Können Sie schon sagen, wie der Mörder reinkam?«
»Nur vermuten. Bis jetzt deutet nichts darauf hin, daß er sich mit Gewalt Einlaß verschafft hat.«
»Soll heißen, das Opfer hat ihn reingelassen?«
»Möglich. Wenn, dann könnte es in den Unterlagen Üskers Hinweise auf den Täter geben.«
»Na schön. Vernehmung der Hauswirtin, der weiteren Bewohner... ?«
»Hat noch nichts ergeben.« Krantz grinste ihn an. Ein spöttischer Zug stahl sich um seine Mundwinkel. »Sie sehen blaß aus. Ich weiß, das macht alles keinen Spaß. Wollen Sie einen Brandy? Zufällig weiß ich, daß unser Onkel Doktor was davon im Köfferchen hat. Zu medizinischen Zwecken«, fügte er süffisant hinzu.
Menemenci warf noch einen Blick auf den faulenden Leichnam und schüttelte schwach den Kopf.
»Wie, sagten Sie, hieß der Mann?«
»Üsker. Mehmet Üsker.«
Montag, 23. August
11.07 Uhr. Vera
Sie sah auf das Blatt, den kleinen Spiegel vor sich hingestellt, und überlegte, was sie mit der Nase falsch gemacht hatte.
Zu lang?
Der Mund lächelte, der war gelungen. Es mußte die Nase sein.
Irgendwie paßten Mund und Nase nicht zusammen.
Irgendwie paßte alles nicht zusammen.
Unschlüssig drehte sie den Bleistift zwischen den Fingern, legte ihn vor sich hin, nahm den Spiegel und hielt ihn dicht vor ihre Augen. Die Iris war eisblau mit dunklem Rand. Die Brauen breit und dicht. In der Mitte gezupft, weil sie sich sonst zu einer einzigen goldenen Welle verbunden hätten. Eine kleine Nase mit runden, aufgeworfenen Flügeln behauptete sich trotzig über einem breiten, dunkel geschminkten Mund.
Langsam entfernte sie den Spiegel von ihrem Gesicht und sah zu, wie es ganz darin auftauchte. Breite Wangenknochen, niedrige Stirn, ein runder Schädel mit millimeterkurzen blonden Haaren.
Von der Unterlippe zog sich eine haardünne weiße Narbe quer über das kräftige Kinn.
Es gab schönere Gesichter, fand Vera. In ihrem wollte nichts so richtig zum anderen passen.
Vor allem nicht zum Rest der Familie.
Sie hielt den Spiegel jetzt so weit von sich, wie sie ihren Arm strecken konnte. Die Frau, die ihr entgegensah, nun um Hals und Schultern ergänzt, trug keinen Schmuck. Schwarzes T‐Shirt, schwarzer Blazer. Sonst nichts.
Beide Teile allerdings von edelster Qualität.
Vera gönnte sich ein anerkennendes Grinsen. Viel besaß sie nicht, aber das wenige hatte Stil. Sie weigerte sich, wertlose Dinge zu tragen oder sich mit Schund zu umgeben. Ihr Büro zierte neben einigen verchromten Aktenschränken nur ein massiver schwarzglänzender Schreibtisch. Stühle davor, weiter hinten zwei Sessel und ein Doppelsitzer von Le Corbusier, gleichfalls schwarz, warteten auf anthrazitgrauem Teppichboden auf Besucher.
Sie hielt den Spiegel ein Stück höher und führte ihn langsam näher an ihr Gesicht, bis er wieder ausgefüllt war von den Augen. Ihre Augen fand sie schön. Den Rest nicht so sehr. Aber die Augen waren nicht schlecht.
Langsam führte sie den Zeigefinger ihrer linken Hand zur Nasenspitze und drückte sie hoch, bis sich die Oberlippe von der Unterlippe löste und ihre Schneidezähne freigab.
Blondes Kaninchen, dachte sie. Irgendwie drollig .
»Verzeihung«, sagte eine Stimme.
Sie ließ den Spiegel sinken und betrachtete den Mann, der in der Türe stand.
»Hallo«, sagte sie kühl. »Ich habe ein Vorzimmer.«
Jedesmal, wenn sie längere Zeit nicht gesprochen hatte, kam ihr die eigene Stimme fremd vor. Zu tief, zu heiser, als habe ihr jemand seine geliehen, weil
Weitere Kostenlose Bücher