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Die dunkle Treppe

Die dunkle Treppe

Titel: Die dunkle Treppe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Fitzgerald
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hatte. Jetzt stellte ich mir nicht mehr vor, dass ein Auto mich rammte und sieben Meter durch die Luft segeln ließ, ehe mein platt gefahrener Kopf und meine verdrehten Gliedmaßen mit einem dumpfen Knall auf dem Seitenstreifen aufschlugen. Als ich den Park durchquerte, stellte ich mir nicht mehr vor: Ein Mann erscheint aus dem Nichts und zieht a) ein Messer unter seinem weiten Mantel hervor, um mir die Kehle von einem Ohr zum anderen aufzuschlitzen, oder zerrt mich b) in die Büsche, reißt meine Unterhose herunter, um mich zu vergewaltigen, während er mir mit dem Ellbogen die Luft abdrückt. Ich malte mir auch nicht aus, in den künstlich angelegten Teich zu fallen und mich, vergeblich um Hilfe rufend, mit den Füßen in Unterwasserpflanzen zu verfangen.
    Zum ersten Mal seit vier Jahren dachte ich an nichts, was mit dem Tod zu tun hatte.
    Ich erreichte die Hauptverkehrsstraße auf der anderen Seite des Parks. Das Krankenhaus war außer Sichtweite, und ich winkte ein Taxi heran.
    Ich drehte mich um und betrachtete den Weg, den ich zurückgelegt hatte: eine todesfreie Zone. Tief Luft holend, öffnete ich die Autotür und sagte: »Nach Tullamarine, zum Flughafen.«

2
    Seit meinem elften Lebensjahr war ich nicht weiter als bis Melbourne gekommen, und selbst das war nur ein Tagesausflug gewesen. Wir hatten uns die Pinguine auf Port Phillip Island angeschaut. Der erste Ausflug ohne unsere Mutter sollte uns eigentlich aufheitern, aber mir waren die Reihen mit Touristen und watschelnden Pinguinen erschreckend gleichartig vorgekommen. Ich weiß noch, wie traurig ich es gefunden hatte, dass beide am selben Ort gelandet waren und mehr oder weniger dasselbe taten.
    Ich hatte einen vagen Plan gehabt: zu reisen, sobald ich mein Ergebnis kannte, um aus den verbleibenden Jahren das Beste zu machen. Deshalb hatte ich einen Reisepass beantragt und ihn am Morgen vor der Untersuchung in meine Umhängetasche gesteckt. Aber bei der Blutabnahme ahnte ich schon, dass meine Reise wohl kaum Spaß machen würde, wenn ich von meinem bevorstehenden Tod wüsste. Nein, das wäre zweifellos eine Spaßbremse ersten Ranges.
    Nichtwissen war es, was ich brauchte. Und deshalb musste ich jetzt abhauen.
    Der einfache Flug kostete achthundert Dollar. Das waren zwei Drittel der Summe, die ich bei einem Job zurückgelegt hatte. Sechs Monate lang hatte ich in der Münzanstalt von Craigieburn buchstäblich Geld gemacht. Ich bezahlte mein Ticket und lief so schnell wie möglich zum Abfertigungsschalter. Was würde passieren, wenn Papa und Ursula mich aufspürten? Was sollte ich ihnen sagen? Was tun, wenn sie mich anflehten zu bleiben?
    »Wie viele Koffer?«
    Das war der Abfertigungstyp von der Quantas, und er schien schon eine ganze Weile mit mir gesprochen zu haben. Geistesabwesend hatte ich mir ausgemalt, wie Papa und Ursula durch das Krankenhaus und den Park gerannt waren, ehe sie meinen Zettel unter dem Scheibenwischer fanden:
    Lieber Papa, liebe Ursula,

    tut mir leid, aber ich will’s nicht wissen. Ich werde nicht zulassen, dass diese Sache von mir Besitz ergreift. Genau das passiert seit Jahren. Ich habe wertvolle Lebenszeit vergeudet. Jetzt fliege ich nach London, um zu leben, und es wird mir gut gehen. Ich liebe euch beide mehr denn je und mehr als alles andere auf der Welt.

    Eure Bronny
    »Keine?«, fragte der Abfertigungstyp barsch. »Was soll das heißen: ›keine‹?«
    »Ich reise mit leichtem Gepäck«, sagte ich.
    Er hob die Brauen, ehe er mir die Bordkarte aushändigte, und ich eilte im Laufschritt zum Flugsteig – nur für den Fall, dass sie jetzt gerade auf dem Parkplatz ankämen und losrannten, um mir »Halt!« nachzurufen. Anhalten war das Letzte, wonach mir der Sinn stand.
    ***
    Ich leide unter Höhenangst. Also schloss ich die Augen und erinnerte mich an die Worte meines Vaters, nachdem er mich dazu überredet hatte, den Wachturm unseres alten Gefängnisses hochzusteigen. Als ich die letzten Stufen der steinernen Wendeltreppe hinter mir gelassen hatte und ins Freie getaumelt war, hatte ich mich einer atemberaubenden Aussicht gegenübergesehen – und einer wackligen Holzabsperrung, die jeden Moment in sich zusammenzufallen drohte.
    »Weiteratmen!«, hatte mein Vater gesagt. »Tiefe Züge. Nicht drüber nachdenken. Stell dir einfach vor, du stündest auf Terrakotta.«
    Das hatte mich zwar zum Kichern gebracht, aber gegen die Angst half es nicht – damals so wenig wie heute.
    Vielleicht half ja Alkohol.
    Zwei Stunden später

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