Die dunkle Treppe
oder?«
»Ja.«
Ich weiß nicht mehr, ob er mir gefolgt ist oder ich ihm. Ich weiß nur, dass ich den gesamten Zwischenstopp in Gesellschaft von Hamish aus Toronto verbracht habe, der gerade von der Beerdigung einer Freundin in Ballarat nach London zurückkehrte. Während der nächsten beiden Etappen unserer Reise saß ich neben ihm, und er redete mir gut zu, während ich mehrere ausgewachsene Panikattacken durchlebte. Ausgelöst wurden sie jeweils durch: a) Turbulenzen, b) ein unidentifiziertes Flugobjekt nicht weit von der Tragfläche unterhalb meines Fensters entfernt, c) einen Fluggast, der seine Tasche (Bombe) ein wenig zu fest an sich gepresst hielt, d) einen Boxkampf zwischen einem nüssewerfenden Schulabgänger und dem Vater eines Kleinkinds, das versehentlich zwischen die Linien geraten war. Wir schauten unzusammenhängende Teile aus drei Filmen. Wir standen in Heathrow in der Warteschlange, als mich Hamish zu meinem Schrecken darüber aufklärte, dass ich kein EU-Mitglied sei und folglich in der anderen Warteschlange anstehen müsse, bei all den Chinesen und Arabern. Dann fuhren wir gemeinsam mit der U-Bahn zu einem Hostel namens Royal, in dem Hamish ein Internetcafé betrieb. Er sagte mir, dass das Royal gut und sauber und total angesagt sei. Außerdem käme jeden Morgen eine Reinigungsfirma vorbei, um Gelegenheitsarbeiter zu rekrutieren.
***
»Wir sind ausgebucht«, sagte der Typ, der das Hostel führte und musterte mich von Kopf bis Fuß, ehe er Hamish seinen Schlüssel aushändigte. »Du hättest besser über das Internet gebucht.« Am liebsten hätte ich laut losgeheult. Mit vierhundert australischen Dollar war ich in London eingetroffen, und ich hatte gehofft, dass die reichen würden, bis ich meinen ersten Job gefunden hatte. Aber als ich in Bayswater ankam, waren schon hundertfünfzig Dollar weg. Mir blieb gerade noch genug Geld für drei Übernachtungen in einer Absteige wie dem Royal, und selbst die hatten kein Zimmer mehr für mich.
Ich zog meine Windjacke aus und ließ mich auf eine Bank plumpsen. Mein Kopf war wirr, und meine Beine waren schwach. Ich trug Jeans, Turnschuhe und ein ärmelloses T-Shirt, und am Morgen zuvor hatte ich in der Aufregung um meinen bevorstehenden Tod ganz vergessen, einen BH anzuziehen.
»Na, sieh mal einer an«, sagte der Manager, ließ den Blick an mir entlangwandern und wandte sich seinem Computerbildschirm zu. »Da ist doch noch eins frei.«
3
Der Leiter des Hostels, ein Australo-Italiener namens Francesco, hatte Bronny für einen Jungen gehalten. Aber dann hatte sie ihre Windjacke ausgezogen, und auf einmal war klar gewesen, dass sie kein Junge war. Sie hatte große, achtzehn Jahre alte und von keinem BH gebändigte Brüste. Also hatte sich aus dem Nichts ein Zimmer materialisiert: Zimmer dreizehn, zusammen mit einem Mädel aus Neuseeland. So war das gewesen.
Er bot sich an, ihr die Koffer zu tragen, aber sie hatte gar keine. Also begleitete er sie ohne Koffer zu ihrer Bleibe, einem Doppelzimmer im zweiten Stock. Ihr Bett sei das neben der Tür.
»Hast du vielleicht ein zweites Handtuch?«, fragte sie.
»Nur unter der Bedingung, dass du heute Abend zu der Party kommst«, sagte er. Nicht nur die erwähnten Brüste zogen ihn in ihren Bann – auch ihr offenes Gesicht, ihre ungefärbten, wenn auch nicht gerade gepflegten Haare, und ein Lächeln, das auf bezaubernde Weise von Melancholie verschleiert wurde.
Abgemacht.
Nachdem Bronny geduscht und ihre Unterhose im Waschbecken gewaschen hatte, legte sie sich erst mal hin und machte ein Nickerchen. Da Fliss, ihre Zimmergenossin, bei der Arbeit zu sein schien, schlief sie ungestört. Dann ging sie in das Internetcafé im Erdgeschoss. Es lag an der Vorderseite des Hostels, mit Blick auf die Straße, und Hamish saß an einem der sechs Computer. Die Kaffeemaschine in der Ecke war der einzige Teil des Raums, der die Bezeichnung »Café« rechtfertigte.
»Tach«, sagte Hamish mit schlechtem Aussie-Akzent und wies Bronny einen Computer zu. Sie wollte eine E-Mail an ihre Familie schreiben.
»Ursula und Papa, mir geht’s gut«, tippte Bronny. »Ich bin in einem Hostel in London, und es ist wirklich nett hier. Einen Job habe ich auch schon. Ich hab Euch lieb!«
Nachdem sie ihre E-Mail beendet hatte, hielt sie Hamish eine Pfundnote hin.
»Gib mir lieber einen aus«, sagte Hamish. Bronny fand, dass er ohne seine Brille echt süß aussah.
Sie gingen gemeinsam ins Untergeschoss, und beide hatten das Gefühl, seit
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