Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod
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A m 21. November, ihrem siebenundvierzigsten
Geburtstag, drei Wochen und zwei Tage vor ihrer Ermordung, fuhr Rhoda
Gradwyn zu einem ersten Termin bei ihrem plastischen Chirurgen, um in
einem Sprechzimmer, das man eigentlich aufsuchte, um sich Mut machen
und von Sorgen befreien zu lassen, den Entschluss zu fassen, der sie
letztlich das Leben kostete. Danach würde sie im Ivy zu Mittag essen.
Das Zusammentreffen der beiden Verabredungen war Zufall. Mr.
Chandler-Powell hatte keinen früheren Termin zur Verfügung gehabt, und
der Lunch mit Robin Boyton, für Viertel vor eins gebucht, war schon vor
zwei Monaten verabredet worden; im Ivy durfte man nicht damit rechnen,
auf gut Glück einen Tisch zu bekommen. Keines der beiden Ereignisse
betrachtete sie als Feierlichkeit zu ihrem Geburtstag. Über dieses
Detail ihres Privatlebens wurde, wie über vieles andere, nicht
gesprochen. Sie bezweifelte, dass Robin ihr Geburtsdatum erfahren oder
sich auch nur dafür interessiert hatte. Auch wenn sie eine angesehene,
sogar namhafte Journalistin war, erwartete sie nicht, ihren Namen auf
der VIP-Geburtstagsliste der Times zu lesen.
In der Harley Street wurde sie um Viertel nach elf erwartet.
Bei den meisten Verabredungen in London ging sie wenigstens einen Teil
des Weges zu Fuß, diesmal hatte sie für halb elf ein Taxi bestellt.
Eigentlich dauerte die Fahrt aus der City heraus keine
Dreiviertelstunde, aber beim Londoner Verkehr wusste man nie. Sie begab
sich auf ein ihr fremdes Terrain und wollte sich bei ihrem Chirurgen
nicht gleich unbeliebt machen, indem sie bereits zum ersten Termin zu
spät kam.
Vor acht Jahren hatte sie ein Haus in der City gemietet. Es
gehörte zu einer schmalen Häuserzeile an einem kleinen Rondell am Ende
der Absolution Alley nahe Cheapside. Kaum war sie damals eingezogen,
wusste sie, dass sie in keinem anderen Teil Londons mehr leben wollte.
Sie hatte einen langfristigen Mietvertrag, der verlängert werden
konnte; gerne hätte sie das Haus gekauft, aber sie wusste, dass es
niemals zum Verkauf stehen würde. Es bereitete ihr keinen Kummer, dass
sie nicht darauf hoffen durfte, es einmal ganz zu besitzen. Es stammte
zum größten Teil aus dem siebzehnten Jahrhundert. Viele Generationen
hatten in dem Haus gewohnt, waren dort zur Welt gekommen und gestorben
und hatten nichts hinterlassen als ihre Namen auf uralten, vergilbten
Mietverträgen, und sie fühlte sich ganz wohl in ihrer Gesellschaft. Die
unteren Räume mit den Kassettenfenstern waren dunkel, aber ganz oben in
ihrem Arbeitszimmer und im Wohnzimmer öffneten sich die Fenster dem
Himmel, und man blickte auf die Hochhäuser und Kirchtürme der City und
noch weit darüber hinaus. Eine Eisentreppe führte von einem schmalen
Balkon im dritten Stock auf ein eigenes Dach, auf dem Blumentöpfe aus
Terrakotta standen; an Sonntagen, wenn der Feiertagsfriede bis in die
Mittagsstunden hineinreichte, konnte sie dort bei schönem Wetter mit
der Zeitung oder einem Buch sitzen, und die vormittägliche Ruhe wurde
nur durch das vertraute Läuten der Glocken in der Stadt gestört.
Die Stadt unter ihr war ein Beinhaus, errichtet auf vielen
Schichten Knochen, die Jahrhunderte älter waren als die, die unter den
Innenstädten von Dresden oder Hamburg ruhten. War dieses Wissen Teil
des Geheimnisses, das die Stadt für sie bewahrte und das sie nie
deutlicher spürte als auf ihren einsamen, vom sonntäglichen Geläut
begleiteten Erkundungsgängen durch ihre versteckten Straßen und Plätze?
Die Zeit hatte sie schon als Kind fasziniert, ihre augenscheinliche
Fähigkeit, sich in verschiedenen Geschwindigkeiten zu bewegen, Geist
und Körper zu zersetzen, alle Augenblicke, die gewesenen und die
zukünftigen, in einer illusorischen Gegenwart zu verschmelzen, die sich
mit jedem Atemzug in unverrückbare, unabänderliche Vergangenheit
verwandelte. In der City of London waren diese Augenblicke in Granit
und Backstein festgehalten und verfestigt, in Kirchen und Monumenten
und den Brücken, die sich über die graubraune, ewig dahinfließende
Themse spannten. Wenn sie im Frühling oder Sommer um sechs Uhr früh das
Haus verließ, drehte sie hinter sich zweimal den Schlüssel im Schloss
und trat hinaus in eine Stille, die ihr tiefer und geheimnisvoller
erschien als das bloße Fehlen von Geräuschen. Manchmal kamen ihr auf
diesen einsamen Gängen sogar ihre Schritte gedämpft vor, als fürchtete
etwas in ihr, die Toten zu wecken, die durch diese Straßen gegangen
waren und dieselbe
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