Die Edwin-Drood-Verschwörung 1 - 300 (German Edition)
die Stimme der Triebe gehört, kaum auf die der Vernunft, niemals auf die der Moral. Feuer. Noch siehst du es nicht, du spürst es. Hitze. Jetzt ist alles dunkel, das Schwarz wird erglühen, die finale Herdplatte, liebe Vika, und der Schlund wird sich öffnen, das Gelbrot züngelnder Flammen, und du wirst hineinstürzen. Wehre dich nicht. Warum wehrst du dich? Warum öffnest du deinen Mund und versuchst zu schreien? Weil es wohl alle hier tun? Und alle vergebens.
Jetzt war es passiert. Tumultartiges Gelb, als wäre die Sonne explodiert. Der Körper wird zusammengezogen, er bewegt sich in großer Geschwindigkeit abwärts, er fällt, er dreht sich um die eigene Achse, ein Satellit außer Kontrolle, ein Leib, der auseinandergerissen wird, der verglühen wird. Sind die Augen eigentlich geöffnet oder geschlossen? Als ob das noch eine Rolle spielen würde. Doch, es spielt eine. Denn eine Gestalt, eine menschliche Gestalt schiebt sich ins Blickfeld, ein Kopf, ein Oberkörper. Mann? Frau? Beides. Was ja logisch ist. Gott ist weder Mann noch Frau, Satan tut es ihm nach, er ist beides, er ist weder das eine noch das andere. Er grinst böse. Sein Mund ist männlich, um ihn herum sprießen Bartstoppeln. Seine Lippen sind weiblich, zart rot angemalt, Rouge auf den Wangen, die Wimpern schwarz verschmiert. Der Teufel trägt eine Mütze. Eine Zipfelmütze ohne Bommel. Und da fällt ihr der Name ein: phrygische Mütze. Marianne, die Französische Revolution, Guillotinen, fallende Köpfe.
Und der Teufel beginnt zu sprechen. Mit weiblicher, mit männlicher Stimme: »Naaaa? Alles gut überstanden? Willkommen, schöne Frau.«
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Schön, dachte Mohamad. Einen Moment lang waren das Wort in seinem Kopf und die Welt drumherum eins, steckte die Welt in diesem Wort, fünf Buchstaben groß, einen Atemzug lang, Mirjam schlafend, einen Augenblick lang, Mirjams Gesicht halb hinter der Wildnis ihrer Haare. Schön.
Gestern Abend hatte Mohamad zum ersten Male verstanden, warum Menschen Filme mit Happy End liebten. Vielleicht, weil er sich selbst in einem Film wähnte, einer Hollywood-Produktion, die ihn nicht ohne Hoffnung auf die Straße hinaus entlassen würde. Eine Aufenthaltserlaubnis, eine Arbeit, Mirjam. Sie hatten auf dem Heimweg Irmi in die Mitte genommen und untergehakt – hatte er eben das Wort »Heimweg« gedacht? Ja, hatte er. Mirjam zitterte, ihre Zähne schlugen aufeinander, sie würde sich an die Kälte Mitteleuropas gewöhnen, er würde ihr einen dicken Mantel kaufen. Als er das dachte, sagte Irmi schon: »Wir werden dir gleich morgen früh einen dicken Mantel kaufen und eine Thermohose und gefütterte Stiefel und...«
Er sah die Umrisse des afrikanischen Kontinents vor sich. Die Äquatorlinie. Einzelne Länder. Senegal, Ghana...Accra. Das ließ ihm keine Ruhe. Es war dunkel draußen, alles schlief noch, nur er konnte nicht mehr schlafen. Er sah die Wörter vor sich, das letzte das Zielwort. Täterätätä. War doch Karneval. Das Gegenteil von German Angst, wie könnte man es nennen? German Gemütlichkeit? German Ekstase? Verkleidete Menschen, die tanzten und soffen und lachten und schunkelten. Sich schlimme Dinge trauten, fremde Menschen küssen, zum Beispiel. Durch die Straßen tanzen. Jersey. St. Helier. Hellas. Griechenland, Akropolis, Ouzo. Und Accra?
Nein, er konnte nicht mehr schlafen, aber er war auch noch nicht richtig wach. Aufstehen, das Frühstück zubereiten. Irmi hatte ihm verboten, allein das Haus zu verlassen. Er hätte sonst Brötchen kaufen können. Irmi hatte Recht. Zu gefährlich. Er durfte nicht in Abschiebehaft, wegen Mirjam.
Schön. Sie atmete ein, sie atmete aus, sie hüllte das Wort in ihren Atem und schickte es als eine Wolke in die Welt, sie gab ihr ein Adjektiv, schmückte sie damit. Schöne Welt. Dunkle Welt. Die langsam Töne bekam. Erste Passanten tappten unten auf der Straße, Automotoren wurden gestartet, ganz entfernt säuselte Radiomusik. Vorsichtig richtete er sich auf, sah zu Mirjam, deren Mund etwas geöffnet war, um den Atem hinaus zu lassen, den Atem, der das Wort in die Welt hauchte. Schön.
Auch Irmi hatte nicht schlafen können. Sie drückte Mohamad einen Kuss auf die Wange und die Klinke der Badezimmertür in die Hand, sagte: »Ich mach dann mal Frühstück, schläft Mirjam noch?« Mohamad nickte. »Konnte einfach nicht schlafen heute Nacht. Immer an alles gedacht, du weißt schon. Du auch?« Mohamad nickte wieder. Ja. An alles gedacht. Schön. Er ging ins Bad, machte sich
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