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Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)

Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)

Titel: Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Paul Rudolph
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ein guter Mensch. Aber was ist das überhaupt, ein guter Mensch? Einer, dessen Lebensinhalt das Helfen ist, der sich kümmert, der versteht, dem die Not seiner Nachbarn nicht gleichgültig ist? Oder einer, der die Gesetze achtet, immer und unter allen Umständen, auch wenn diese Gesetze nicht gut sind, nicht gut und nicht menschlich? Wäre es letzteres, was den guten Menschen ausmacht, dann, nein, so leid es mir tut, wäre unser Doktor kein guter Mensch gewesen. Aber das kümmert uns nicht. Wir wissen alle, dass eine Gesellschaft, in der das Gute und das Gesetz eins sind, nicht existiert, nicht existieren kann.
    Der Doktor und ich, wir wurden im selben Jahr geboren, der Krieg war gerade zu Ende und Großmuschelbach, unsere Heimat, wie durch eine höhere Fügung verschont geblieben von der äußeren Zerstörung. Ich wuchs heran und übernahm das Geschäft meiner Eltern, so wie diese das Geschäft von den ihren übernommen hatten und diese von den ihren und diese von den ihren. Der Doktor verließ uns als junger Mann, um in der Stadt zu studieren, Medizin zu studieren, und keiner von uns glaubte, ihn jemals wiederzusehen. Vielleicht käme er zu Besuch, in einem großen Wagen, ein wohlhabender, angesehener Mann mit einer schönen und anspruchsvollen Frau und gut geratenen Kindern, ein Mann für ein paar Stunden, bevor er wieder verschwunden wäre in seine Welt, die sich immer mehr von der unsrigen absonderte, mit der wir irgendwann nichts mehr zu tun hatten, die nichts mehr mit uns zu tun haben wollte. Aber es kam anders. Der Doktor kehrte, nun wirklich ein Doktor, zurück und blieb. Er gründete seine Praxis und behandelte uns, aber er tat viel mehr, keiner ist hier, der das nicht wüsste, keiner, dem nicht selbst geholfen worden wäre. Ein guter Mensch? Ja. Doch ein guter Mensch in einer schlechten Zeit.“
     
     
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    Wir ließen die Rede des Fotohändlers Theophil Krause über uns ergehen wie eine Runde des „Philosophischen Quartetts“ zu nachtschlafender Fernsehzeit. Zuviel verschärftes Nachdenken schadet der Gesundheit, das haben die Deutschen immer schon gewusst und es deshalb tunlichst vermieden. Dr. Habicht war ohne Zweifel ein Wohltäter seiner Gemeinde gewesen, einer, der die Erniedrigung der Menschen nicht scheute, um ihre bloße Existenz abzusichern und das zu beschaffen, was diese Existenz am Rollen hält: Geld. Merkwürdig, dass mir sofort wieder die Abschaffung desselben einfiel. Nein, gar nicht merkwürdig. Es war nun einmal so – und nicht nur in Großmuschelbach.
    Krause schloss mit den Worten: „Der Doktor hat verfügt, dass wir seine Asche hier im Stollen verstreuen. Wir scheißen auf die Bestattungsverordnung und werden den Wunsch unseres Freundes erfüllen. In den nächsten Tagen, ganz ohne Brimborium, ohne weitere Zeugen. Ich danke euch.“ Ohne weitere Zeremonie erhoben sich nun die Trauernden und strömten aus dem Raum, dem Tageslicht zu. Sie schauten an uns vorbei, ohne Hass, ohne Verachtung. Oxana hätte nackt sein können, es wäre nicht anders gewesen. Der Ladenbesitzer passierte uns als letzter, auch er zunächst ohne uns eines Blickes zu würdigen, doch dann blieb er stehen, sah mich an, schwieg jedoch. „Ich habe Sonja Weber nicht gesehen“, stellte ich fest. „Na seltsam“, antwortete er, „ich auch nicht.“ „Wir würden sie gerne sprechen.“
    Er sah von mir zu Oxana, von Oxana zurück zu mir. „Sie wissen doch, wo sie wohnt. Gehen Sie hin und reden Sie mit ihr.“ „Sie ist verschwunden“, sagte ich. Es schien ihm überraschend neu, sein Gesichtsfett zuckte für einen Moment. „Verschwunden? Hier ist sie jedenfalls nicht. Vielleicht ist sie bei ihrem Bruder.“ Er schien es für einen gelungenen Witz zu halten und lachte flüchtig, schickte sich an weiterzugehen. „Bleiben Sie hier? Bitte. Ich schließe aber das Tor dann zu.“
    Draußen sah es inzwischen aus wie an einem Winternachmittag unmittelbar vor der Dämmerung. Es schneite heftig, es wehte munterer Wind, die Großmuschelbacher kämpften sich im Gänsemarsch ihren Wohnungen zu, der alte Fotograf balancierte sein Gewicht erstaunlich grazil auf dem rutschigen felsigen Boden. Ich wollte ihn am Arm packen, herumreißen, ich war wütend und ungeduldig. Oxana hielt mich mit sanfter Kopfbewegung zurück. „Sagen Sie, mein Lieber“, sprach sie Krause an, „Herr Klein hier hat mir von Ihrem Geschäft erzählt, von der Tradition, die Sie dort bewahren. Zeigen Sie es mir? Ich stamme aus Kasachstan und mag alte

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