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Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)

Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)

Titel: Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Paul Rudolph
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junge Medizinstudent, vor der malerischen Kulisse des gynäkologischen Instituts, Dr. Habicht im Kreise seiner Familie, seiner Freunde, der Honoratioren, Dr. Habicht, im Haar Spuren erster Ergrauung, auf einem Hügel stehend und in die Landschaft blickend. „Die müssen ihn hier sehr verehren“, stellte ich beklommen fest und suchte den Klingelknopf.
    Fand ihn, klingelte, wir warteten, wir warteten vergebens. Blickten uns um, auf die Fenster mit ihren schweren, vergilbten Gardinen, die sich nicht bewegten. Es war, als lebe hier kein Mensch, habe nie einer gelebt. Eine Geisterstadt in der Todeszone inkontinenter Atomreaktoren, Goldgräberkaff nach dem Ende des großen metallenen Rausches, die FDP, als das letzte Parteimitglied sein Parteibuch zurückschickt, Porto zahlt Empfänger, Portugal, Griechenland und Irland, als alle sich kaputtgespart haben, der Sozialstaat nach der xten Reform, wer noch lebt, lebt hinter dicken Mauern und unter Personenschutz, der Rest ist wie ein lästiger Kostenfaktor von der Rechnung der Zivilisation getilgt. „Gruselig“, stellte Oxana fest.
    Wir bummelten durch die Straßen, wenigstens ein Geräusch erhofften wir uns, doch Großmuschelbach tat uns den Gefallen nicht, was wir hörten, waren unsere Schritte, war unser Atmen. In der Distanz drohte der Berg mit seinen Höhlen und Gängen, über ihm drohte finsterer Wolkenbrodel, erste Schneeflocken fielen und mehrten das Leichentuch auf dem Dorf.
    Es ging bergan. „Wenn die irgendwo sind, dann wohl in ihrem Bergwerk“, mutmaßte ich, Oxana nickte, wenig überzeugt. Am Eingang angekommen, schienen sich ihre Zweifel zu bestätigen, das dicke Eisentor war geschlossen, die Schneewand wurde dichter, unsere unbedeckten Häupter alterten im Zeitraffer unter dem nassen Weiß. Wir sollten umkehren, ja, das Ganze abhaken, ein Ausflug in die zerfallende Leiche einer Ansiedlung, niemand mehr hier, alle ausgewandert, wohin auch immer. Wir blieben stehen und wussten nicht, was zu tun war. „Gehen wir wieder“, schlug ich vor. „Nein“, sagte Oxana und trat an das Tor, zerrte an dem Riegel – und siehe, das Tor gab nach und öffnete sich.
    158
    An den Wänden gingen Fackeln und verbreiteten unruhiges Zwielicht. Der Geruch von Teer, das ewige Tropfen der Feuchtigkeit, ein Murmeln, das wie ein atemloses Gebet durch die Räume hallte. Ich kannte den Weg, ich kannte das Ziel. „Mich fröstelt“, flüsterte Oxana und meinte nicht die Temperatur, gewiss war sie weit unter Null. Wir irrten im Nebel unseres Atems, immer dem Murmeln zu.
    Dort, wo noch vor kurzem die Haute Volée tafelte und zerlumpte Kindergestalten olivertwisteten, standen nun Holzbänke, auf denen in sich versunken Menschen saßen, vielleicht hundert, vielleicht mehr oder weniger, die Einwohner von Großmuschelbach, der verbliebene Rest der Verfluchten. Sie bramarbasierten unverständliche Worte, mehr in sich hinaus als aus sich hinaus, die Köpfe lagen auf den Brüsten, die Hände gefaltet in den Schößen, nur manchmal hob sich der Blick und erfasste das schmale Podest inmitten des Raumes, eine goldene Stele, auf der ein Gefäß stand, eine schlichte helle Urne auf schwarzem Tuch. Wir drängten uns an die Wand, unbemerkt von der Menge, ich suchte sie ab, erkannte die mächtige Gestalt des Fotoladeninhabers, von Sonja Weber keine Spur. Ob wir besser wieder gehen sollten? Ich suchte Oxanas Augen, sie sagen, zögernd: „Nein.“
    Eine Viertelstunde mochte das so gehen, uns wurde kalt. Die Menschenwärme war unangenehm feucht und stickig, sie erhitzte unsere Köpfe, vereiste alles andere. Dann, wie auf ein geheimes Kommando, verstummte die Trauergesellschaft, für ein paar Minuten hörte man nur noch das Spiel von Zugluft in den Flammen der Fackeln, das Tröpfeln von den Wänden, so etwas wie ein Seufzen aus Kindermund, selten ein Hüsteln, das Hochziehen von Nasenrotz, einen bewegten Fuß auf dem Fels. Der Fotohändler erhob sich endlich, trat neben die Stele, seine Linke berührte die Urne, als wolle er sie streicheln, doch mitten in der Bewegung hielt er inne, zog die Hand zurück, als habe sie sich verbrannt. Er räusperte sich und sah sich um, bemerkte uns im Hintergrund, seine Augenbrauen wurden hochgezogen, doch dann nickte er nur in unsere Richtung und suchte sich einen fixen Punkt an der Decke und begann zu ihm zu sprechen.
    „Liebe Freundinnen und Freunde. War der Doktor ein guter Mensch? Keiner unter uns würde ohne zu zögern etwas anderes sagen als Ja, der Doktor war

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