Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
Dinge, die nicht unnütz geworden sind.“ Krause sah sich erstaunt um, betrachtete Oxana, nickte schließlich.
Wir erreichten den Ortsrand, die ersten Häuser, Menschen verschwanden in ihnen, nicht in allen. „Hier“, sagte Krause und wies auf einzelne Gebäude, „hier hat mal die und die Familie gewohnt, aber sie sind weggezogen. Leben jetzt in der Stadt, leben von Hartz IV oder wie das gerade heißt, lassen sich Essensgutscheine für ihre Kinder geben, wenn das funktioniert, wenn sie die Anträge richtig und rechtzeitig ausfüllen, oder Musikunterricht oder Sportverein, man hört davon. Ist das aber ein Leben? Ein besseres Leben? Oder hier, hier, hier“ – Er wies immer hektischer auf Häuser und Wohnungen, von außen sah sie aus, als gäbe es noch Leben in ihnen, die Gardinen vergilbt, die Fensterscheiben blind geworden. – „Alle weg, und viele werden ihnen folgen. Aber sie entkommen ihrem Schicksal nicht. Sklaverei, ja. Nur, ich frage Sie: Was ist besser? Ein Sklave der Verhältnisse oder ein Sklave der Gesellschaft? Gibt es einen Unterschied?“
Wir antworteten nicht. Wir trotzten dem Schnee, wir ertrugen, dass er uns wieder zu weißhäuptigen Greisinnen und Greisen machte, wir achteten auf die Glätte, wir spürten den Wind, der stärker wurde, wir standen endlich vor Krauses Ladentür, der Alte zog einen langen Schlüssel aus der Tasche seiner Jacke und schloss auf.
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Große dunkle Kästen auf drei Beinen, „gleich kommt das Vögelchen!“ – und der Kopf des Fotografen taucht unter schwarzes Tuch wie der des Magiers in den Dunst seiner Zaubermixtur. „Bitte dreißig Minuten ganz stillsitzen und lääääächeln!“ Krauses Laden war ein Museum, ein Ausflug in verflossene Episoden, als ernste Männer mit imposanten Schnurrbärten für die Ewigkeit posierten, Frauen in eng geschnürten Korsetts und Kinder, die tatsächlich auf das Vögelchen warteten, das indes nie aus dem Objektivloch flog. Alles vergilbt, alles eine Momentaufnahme des Lebens, alles längst tot.
„Ich hab mich immer gefragt, was die denken“, sinnierte Krause und verzog entschuldigend das Gesicht, als beichte er uns ein Vergehen. „Ja, was denkt man, wenn man fotografiert wird? Haben Sie sich das schon einmal überlegt?“ Wir hatten es noch nicht und gaben es zu. Krause nickte. „Hm, ja, aber ich hab wahrscheinlich nur gedacht, die denken das, was ich denken würde. Is immer so.“
Das Beschreiben der altertümlichen Apparaturen und Verfahren hatte aus Krause einen anderen Menschen gemacht, in eine Vergangenheit gerissen, die weit über die Spanne seines eigenen Lebens hinausreichte. Wir hörten von wandernden Photographen, Herren in Sonntagsanzügen, ständig über die Dörfer ziehend, von Hochzeit zu Hochzeit, Beerdigung zu Beerdigung, „mein Großvater war gleichzeitig Besitzer eines Wanderkinos, er fuhr an Sonntagen mit seinen Gerätschaften über Land, führte Kurzfilme vor und anschließend fotografierte er die Menschen. Hier.“ Er wuchtete schwere Glasplatten aus den Schubladen, Negative, die aus Weiß Schwarz, aus Schwarz Weiß machten, nein, korrekter: Aus Hell Dunkel und aus Dunkel Hell, aus Gut Böse und umgekehrt, dachte ich und nickte wissend. Aus Gut Böse.
Später kochte Krause Kaffee, den er in zierlichem Porzellan servierte, auch das etwas, das weder Oxana noch ich gewohnt waren. „Das ist mein Leben“, sagte er und blickte zu Oxana, die ihn anlächelte, so warm, dass wir die klamme Kälte im Zimmer vergaßen, in dem kein Ofen bollerte, wo Eisblumen auf dem Fensterglas blühten und der Nacht Einhalt geboten, die zu uns eindringen wollte, na ja, sie versuchten es wenigstens an diesem Abend über weißer Landschaft, aber es schneite nicht mehr.
„Sie werden alle gehen, nur die Alten bleiben“, sagte Krause und der Zauber des Augenblicks wurde verscheucht wie eine lästige Fliege. „Ist das nicht der Lauf der Welt?“ Oxana fragte es leise, als würde jeder laute Ton etwas zerstören. Krause seufzte auf, seine Schultern hoben sich, senkten sich. „Sie haben Recht. Nichts bleibt. Wenn sie aus Kasachstan kommen, wissen Sie Bescheid. Man geht, weil man keine Zukunft mehr hat, man weiß nicht, ob man jemals eine haben wird. Wir waren naiv, unser Dorf an der Zeit vorbei durch die Zeit mogeln zu wollen, das kann nicht funktionieren. Aber es tut trotzdem weh, verstehen Sie?“
Oxana begann über Kasachstan zu erzählen, über die Hoffnungslosigkeit und die Hoffnung. Krause verstand jedes Wort,
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