Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
kann, sind Enge und Lärm. Deodorantresistente Mittfünfziger und quengelnde Gören, palavernde weibliche Kegeltrios und grobkörnige Männer, die meilenweit nach Flatrate-Puff stinken. Sprechen wir nicht von pferdeärschigen Staubsaugervertretern und ältlichen Damen, die glauben, sie hätten einen rechtlichen Anspruch auf beide Armlehnen.
Heute hatte ich es gut getroffen. Neben mir saß die hübsche Dame, guterhaltenes Spätzwanzigertum, schätzte ich, und las in einem Buch, während ich sie wohlgefällig aus dem rechten Augenwinkel musterte. Mir gegenüber ein Pärchen vom Typus rüstige Rentner, das schweigend an Salzstangen vor sich hin mümmelte. Auch sonst war alles, als wir den Bahnhof und schließlich die Stadt verließen, sehr ruhig und gesittet, das Kaffeewägelchen rollte, von einem jungen Burschen in schlechtsitzender Uniform hinter sich her gezogen, über den schmalen Gang, jemand hüstelte, jemand schnäuzte sich, jemand fragte seinen Nebenmann nach dem Weg zur Toilette, in Fahrtrichtung oder gegen Fahrtrichtung. Sogar pünktlich waren wir abgefahren – dies mochte der Grund sein, warum alle Passagiere so sprachlos waren.
Die monotonen Geräusche, das Gleichmaß, in dem die Landschaft wie eine Filmkulisse an uns vorbeigezogen wurde, all das ließ mich müde werden. Meine Gedanken, eh nicht als spitze Pfeile bekannt, wurden unscharf, sie drehten sich natürlich um Sonja Weber und ihren Bruder, die Katastrophe auf der Hähnchenmastfarm, den schmierigen Privatschnüffler (immerhin ein Berufskollege, wenn ich alle Fünfe gerade sein ließ), Oxana und Hermine – dann dämmerte ich vor mich hin, endlich hinweg, träumte ein wenig, keine Ahnung was, wir überfuhren die Grenze nach Frankreich, der Zug hielt an Bahnhöfen, Leute stiegen aus und Leute stiegen ein – irgendwer berührte mich, schüttelte mich sacht. Es war die Frau neben mir. Ich öffnete die Augen, sah ihr Lächeln, hörte ihre Stimme. „Entschuldigung, wenn ich Sie wecke, aber der Schaffner ist gleich da.“
Ich bedankte mich artig und warf einen schnellen Blick auf den Umschlag des Buches, das im Schoß meiner Nachbarin ruhte und mich sofort eifersüchtig machte. „Reiseführer St. Malo“. Sehr gut, dachte ich. Man wird sich so schnell nicht aus den Augen verlieren. Der Schaffner prüfte meine Fahrkarte mit der Akribie eines Mannes, der Reisende prinzipiell für potentielle Terroristen hält. Ich musste ihn enttäuschen und erhielt mein Billet anstandslos entwertet zurück. Die Frau widmete sich inzwischen wieder ihrem Reiseführer, ich verspürte ein dringendes Bedürfnis, zwängte mich zwischen Vordersitz und Frauenknien hindurch auf den Flur, stand nun ebenfalls vor der Frage, in oder gegen Fahrtrichtung, entschied mich – ganz Gegendenstromschwimmer – für letzteres und begann vorsichtig meinen Fußweg auf dem sanft schaukelnden Boden. Schön, so eine Reise. Frankreich! Riecht man es schon? Baguettes, Rotwein, Froschschenkel? Nein. Oder doch. Innerlich.
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Paris, Ostbahnhof. Wer in die Bretagne will, muss die Stadt durchqueren, um am Westbahnhof seinen Zug zu erreichen. Das bedeutet endlose Gänge, Rolltreppen, Metrofahrt in Ölsardinenstellung, wieder endlose Gänge und Rolltreppen, die Ausdünstungen diverser Kulturen, die den Knoblauch als Krönung ihrer Küchenkunst schätzen – all das, damit du am Westbahnhof feststellst, dein Zug fahre erst in einer Stunde ab. Also in ein Café, lauwarmen Milchkaffee trinken und ein fröhlich vor sich hin blätterndes Croissant bändigen, daran denken, es handele sich bei dieser ganzen Tortur nur um die subtile Rache der Franzosen an den Deutschen, die tägliche Retourkutsche für den verlorenen Krieg 1870/71, die Schweinereien zweier Weltscharmützel. Wenn man auch darunter leidet: Trotzdem irgendwie sympathisch, diese Franzosen.
Die Frau aus dem ICE hatte ich natürlich bald aus den Augen verloren. Verschluckt von der Menge. In der Metro gab es noch immer keine Einzelfahrscheine zu kaufen, nur Carnets, Zehnerblöcke. Ich schaute mich um und entdeckte einen älteren Herrn in einer Ecke, er zwinkerte mir zu, ich zwinkerte zurück. Er zog etwas aus der Manteltasche, sagte, als ich vor ihm stand: „Trois Euro“, ich kramte nach den Münzen und wir besiegelten unseren kleinen Handel. Ein lockerer Nebenerwerb: Man kauft sich ein Carnet, lauert den Reisenden auf, die nur von Ost nach West, von West nach Ost müssen, verkauft ihnen die einzelnen Fahrscheine mit einem zivilen
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