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Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)

Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)

Titel: Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Paul Rudolph
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Fragte: „Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen?“ Dumme Frage, ja klar. Niemand schlief mehr gut. Wie auch.
    „Danke der Nachfrage“, sagte die Kanzlerin mit der ihr eigenen Jovialität, bei der es Kriesling-Schönefärb regelmäßig fröstelte. „Selber?“ Er nickte. War natürlich gelogen, war natürlich Smalltalk. Die Bundeskanzlerin hatte ihr Marmeladenbrötchen endlich vertilgt, spülte mit Kaffee nach. Ihr Handy klingelte, Stirnrunzeln. Sie stand auf. „Die Pflicht ruft“, sagte sie nach einem kurzen Blick auf das Display. „Der Franzose.“ Die Augen wurden gen Himmel verdreht. „Ich will Sie nicht stören beim Frühstücken. Passen Sie für einen Moment auf meine Tasche auf?“ Sie wandte sich zum Gehen, wollte den Anruf vor dem Frühstücksraum in Empfang nehmen. Kriesling-Schönefärb nickte. Ihm wurde schwindlig.
     
     
    338
    Dass wir die Kompetenzen der Staatsgewalt unterschätzt hatten, merkten wir, als Marxers Villa in Sicht kam. Zwei unauffällig auffällige Herren standen auf der Straße vor dem Eingang, Männer mit riesigen Brustkästen und Sonnenbrillen, in dunklen Anzügen und weißen Hemden, sie hätten frösteln müssen, aber sie gaben sich ganz cool. „Mist“, zischte Oxana und blieb stehen. Wir machten kehrt und liefen in die Innenstadt zurück, ganz zwanglos an Irmis kleinem Häuschen vorbei, wo verblüffend identische Ausgaben der beiden Herren ebenso zwanglos auf dem Bürgersteig standen und die Passanten musterten. „Mist“, zischte jetzt ich. Wir konnten nirgendwo hin, wir waren Exilierte im eigenen Land, wir rangen nach Luft.
     
    *
     
    Das Herz wanderte langsam in Richtung Kopf. Es pochte fürchterlich. Er war aufgestanden, hatte sich die Tasche der Kanzlerin gegriffen, war ganz ruhig durch die Kantinenküche geschlendert, dem Lieferanteneingang zu, der jetzt der Lieferanteneingang war. Kriesling-Schönefärb würde liefern. Die Wahrheit.
    Niemand stellte sich ihm in den Weg. Obwohl es hier von Personenschützern nur so wimmelte. Unauffällig auffällig gekleidete Herren, die mit Sonnenbrillen auf die Welt gekommen waren, in schwarzen Anzügen und ohne Gesichtsmimik. Sie standen rum und warteten. Kriesling-Schönefärb nickte ihnen zu. Ganz cool. Ein enger Mitarbeiter der Kanzlerin, jetzt offensichtlich zum Bundeskanzlerin-Handtaschenbeauftragten geadelt. Prima Mann, das.
    An der frischen Luft. Er trug nur eine dünne Jacke, ihn fröstelte, ihm war heiß zugleich. Wohin, Kriesling-Schönefärb? Erst einmal weg. Die verruchte Tat würde bald bemerkt werden und das politische Berlin in Aufruhr versetzen. Du hast keine Chance und das ist deine einzige Chance. Die Tasche loswerden.
    Er betrat ein Café, bestellte Mineralwasser, trank es aus, öffnete die Handtasche, zog die Akte heraus, stellte die Tasche an ein Stuhlbein, warf Münzen neben das leere Glas, klemmte sich die Akte unter den Arm, stand auf und ging.
    Zum Bahnhof. Er durfte jetzt keine Zeit verlieren. Kurzer Blick auf den Fahrplan, der nächste Zug aus der Stadt. Frankfurt, sehr gut. Fahrkarte kaufen, auf den Bahnsteig, der ICE fuhr gerade ein. Einsteigen, Platz suchen, hinsetzen. Das Herz saß jetzt direkt unter der Schädeldecke und stand vor der Detonation. Der Zug setzte sich in Bewegung. Kriesling-Schönefärb nahm sein Handy.
    Oxana meldete sich sofort. „Ich hab die Akte“, sagte er. Welche Akte? „Die der Kanzlerin. Ich bin unterwegs. Zuerst Frankfurt. Melde mich dann wieder.“
     
    *
     
    „Der hat WAS?“ Ich fasste es nicht. Wir standen am Bahnhof und froren.
     
    *
     
    Kriesling-Schönefärb sah aus dem Fenster, in die Landschaft, jeder Atemzug brachte ihn weiter weg von Berlin, von der Gefahr. Er schloss einen Moment lang die Augen, öffnete sie dann wieder und schlug die Akte auf.
     
     
    339
    Jetzt war hier zappenduster! Ulrich Hasenkamp und die Seinen fixierten das Weiße im Auge der Staatsgewalt, das nervöse Flackern der Lider, die panischen Erschütterungen der Augäpfel, die vom Baum des Gewaltmonopols plumpsten, den Horror der geweiteten Pupillen. Nicht wanken! Wir sind Weltkriegsteilnehmer, wir haben schon ganz andere Scheiße durchgemacht! Nicht stehen bleiben, einfach immer weiter, das hier ist das Stalingrad der Demokratie, wir-wer-den-sie-gen!
    Die Avantgarde der Rollatoren schob sich entschlossen voran, die todesmutige Schwadron der Fußkranken und Bandscheibenvorfälle, Alzheimer im Anfangsstadium, das wirkte wie eine Befreiung von den Zwängen des Scheißbürgertums. „Empört

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