Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
Steuerzahler... Moment... so ungefähr nen Tausender die Stunde, also – Moment – über 20000 am Tag, das macht im Jahr... Moment... also jedenfalls ne ganze Stange Geld. Mal abgesehen von der Verpflegung, die sie uns ja aus humanitären Gründen zukommen lassen müssen.“
Überzeugte uns auch nicht. Dann schon eher die Theorie mit dem Betäubungsgas. Einige am Tisch probierten ihre Handys, gaben es aber nach einer Weile fluchend auf. „Gibt’s hier keine unterirdischen Gänge?“ fragte Irmi, „das Viertel gehört ja noch zur Altstadt und da haben die früher das manchmal so gemacht, Fluchtmöglichkeiten und so.“ Monika und Helga wussten es nicht. Eigentlich gab es unter dem Haus nur einen gewöhnlichen Keller, in dem die Bierfässer standen. „Und wenn einer versuchen würde, sich durchzuschlagen?“ Sagte die kleine Laura und meinte sich selber mit dem einen. „Ich könnte auch einfach hier rausspazieren und auf klein Mädchen machen, also ich meine... die haben doch auch Kinder, die können doch nicht so herzlos sein.“
Auch dieser Vorschlag wurde verworfen und einen anderen hatten wir leider nicht. Also abwarten, Politiker spielen. Hier rumsitzen und reden, während das Leben draußen das Drehbuch schrieb. Im Frühstücksfernsehen berichteten sie von einem neuerlichen Vulkanausbruch auf Island, der Flugverkehr auf dem Kontinent war zum Erliegen gekommen, der Regierungssprecher beruhigte die Bevölkerung, dies habe nichts, aber auch gar nichts mit den merkwürdigen Ereignissen auf der Insel zu tun. „Lügner“, zischte Oxana. Ansonsten war es sehr ruhig auf der Welt zugegangen in der letzten Nacht. Der Rettungsschirm war, noch bevor man ihn aufgespannt hatte, von einem linden Lüftchen zerfetzt worden. Neuerliche Krisensitzung in Brüssel, wir sahen die Kanzlerin mit ihrer orangenen Tasche zum Flugzeug hetzen. Sie wirkte souverän und lächelte in die Kameras. Die Welt zählte nun sieben Milliarden Menschen und...
„Mal Ruhe!“ unterbrach Irmi unsere Gedanken. „Hört ihr nichts? Da draußen tut sich grad was.“ Hm, stimmte. Ein Rumoren. Stimmen. Nein, Schreie. Schritte. Die Wirtszwillinge eilten zum Fenster und sahen hinaus. „Da kommen Leute“, informierten sie uns. „Bullen? Nee, eher nicht. Die gehen so komisch. Als wären sie alle fußkrank. Aber da... Bullen. Sie stellen sich zwischen uns und die anderen. Mein Gott – es sind unsere Rentner!“
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Mit siebzehn hatten sie Ulrich Hasenkamp von der Schulbank in den Krieg geschickt. Er konnte ihn auch nicht gewinnen. Brachte einen Lungendurchschuss mit nach Hause, der ihm auch heute noch bisweilen zu schaffen machte, einem Mann von jetzt 84 Jahren, ein Mensch, der immer wie eine Uhr funktioniert hatte und wie eine Uhr aufgezogen wurde. Genau. Aufgezogen. Sie machten sich über ihn lustig, sie verarschten ihn, sie missbrauchten ihn, sie plünderten ihn aus. Über 40 Jahre schwer geschuftet und jetzt? Hockte er die letzten Tage seines irdischen Daseins in einer Seniorenaufbewahranstalt ab, musste sich abends aus dem Haus schleichen wie ein Dieb, um in der „Bauernschenke“ mit seinesgleichen moderat zu zechen und, wenn der Tag gut war, einen Blick in den Ausschnitt der neuen und äußerst scharfen Bedienung zu erhaschen oder, wenn der Tag prächtig war, dieser total heißen Braut einen Klaps auf den Po zu geben. So sah sein Leben aus. Irgendwie scheiße, aber ok. Und dann das.
Gestern Abend. Man hatte sie wie Vieh in ein großes Auto getrieben und abtransportiert. Direktemang zurück ins Seniorenheim, wo Schwester Gertraud sie empfangen und erst einmal tüchtig ausgeschimpft hatte. Ausgeschimpft! Dieses junge, total unscharfe Ding! Sie sollten sofort ins Bett, keine Widerrede, sonst würde es morgen keinen Haferschleim zum Frühstück geben. Aber sie hatten die Schnauze voll. Alle, nicht nur die sechs, die man abgefangen und unter menschenverachtendsten Umständen aus dem Verkehr gezogen hatte. Wieso eigentlich? Darauf war keine Antwort zu kriegen gewesen.
So hockten sie im Aufenthaltsraum, der Fernseher lief. Sie erhitzten sich innerlich wie diese Atomreaktoren, auch so ein Mist, den sie nicht gewollt hatten. Man hätte 1968 auf den Putz hauen müssen, aber was waren sie damals doch gute Staatslämmchen gewesen! Aber das waren sie nicht mehr. Ulrich Hasenkamp hatte verbittert auf die Mattscheibe gestarrt, ein Zeltlager vor einer Frankfurter Großbank, Occupy Krankfurt, junge und nicht mehr ganz junge Menschen, die die
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