Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
noch einfallen“, antwortete ich. „Ich komme mit“, kündigte Sonja Weber an, „gleich ist hier so viel los, das wird gar nicht auffallen.“
Wir warteten, bis die Menge der Protestierer bis auf zwanzig Meter an die „Bauernschenke“ herangekommen war. Polizeisirenen ließen sich hören, kamen näher, eine Rotte Beamter rannte im Laufschritt den überforderten Kollegen zu Hilfe, doch sie hatten keine Chance. In der ersten Reihe der Menge quietschten die Gummiräder der Rollatoren, ein infernalisches Geräusch. „Wir melden uns dann“, sagte Oxana und öffnete die Tür. Nach links, nach rechts gucken, niemand beachtete uns. „Seid vorsichtig“, mahnte Hermine und, zu den Zwillingen: „Kommt, Mädels, wir fangen schon mal an, Pils zu zapfen. Bis unsere alten Helden hier sind, vergehen keine sieben Minuten mehr.“
Wir drückten uns an der Häuserwand entlang, bloß nicht rennen, ganz gemütlich vom Tatort entfernen. Niemand kam uns entgegen. Und jetzt? Oxanas Handy klingelte. Sie sagte viele „Hms“ und zum Schluss ein langes „Oh“. „Das war Kriesling-Schönefärb. Der Bursche ist Gold wert.“
337
Die Handtasche. Ich muss an die Handtasche ran. Akte raus, fotografieren, unauffällig wieder Akte rein. Sagt sich so einfach. Die lässt doch ihre Handtasche nicht aus den Augen, nicht mal aufm Klo, dieses schrecklich unförmige, knallorange Ding und dann trägt sie auch noch einen ihrer notorischen orangenen Blazer. Das Kopieren dauert zulange, selbst wenn es gelänge, einen freien Kopierer zu finden. Sie würde es merken, sie würde Alarm schlagen und sofort wäre hier totalitärer Staat, käme niemand raus oder rein, ohne körperlich auf das Schärfste visitiert zu werden. Also lieber gleich offen klauen und ab durch die Mitte. Sich zu den Freunden durchschlagen. Freunden. Was für ein Wort. Er hatte Freunde. Freunde in der Not, aber immerhin.
Kriesling-Schönefärb merkte, wie sich der Schmerz in seinen Hinterkopf schlich und gewillt war, dort eine wüste Party mit den Hirnzellen zu veranstalten. Denken war gut, Panik schlecht, panisches Denken die Hölle. Und er dachte panisch. Kein Ausweg nirgends. Seit dieser Nacht schliefen sie alle im Bundeskanzleramt, war seine Idee gewesen. Dem Volk suggerieren, man kümmere sich rund um die Uhr um seine Belange, kein Privatleben mehr, nur noch Pflicht und nichts als die Pflicht. Im Presseraum waren Feldbetten aufgestellt worden, dort sah es aus wie in einem Notaufnahmelager nach einem schweren Erdbeben. Passte ja auch.
Es war früh am Morgen, alles schlief noch, der Finanzminister schnarchte im Nebenbett, nur der Vizekanzler war außer Kriesling-Schönefärb schon wach und machte seine Yogaübungen. Sein „Omm“ klang wie „Oh mein Gott“, er blinzelte nervös hinter dicken Brillengläsern, er lächelte längst nicht mehr wie seine Vorfahren. Jetzt bewegte sich auch die Bundesfamilienministerin. Sie musste aufstehen, um ihr Neugeborenes zu versorgen, das ließ sie sich nicht nehmen, dafür war leider keine Quotenamme zu finden gewesen. Die Bundesarbeitsministerin schnarchte, sie hatte ihre mütterlichen Pflichten längst erfüllt. Ganz hinten im Eck lag Rainer Brüderle und schlief seinen leichten Rausch vom Vortag aus, neben ihm Gregor Gysi, den man nur unter Androhung von Zwang davon hatte überzeugen können, sich der Aktion anzuschließen. War doch schön. Wie früher bei den Pfadfindern oder als man bei Freunden übernachten und jede Menge Scheiß anstellen durfte.
Zuerst ins Bad, Gemeinschaftsdusche, gottseidank war Kriesling-Schönefärb ungestört. Er brachte es schnell hinter sich, warf sich in seinen Ersatzanzug, gab den anderen in die bundeseigene Reinigung. Zum Frühstücksraum. Und da saß sie. Die Bundeskanzlerin. Ihre Handtasche neben sich auf dem Stuhl. Die mächtigste Frau der Welt kaute am störrischsten Weißbrot der Welt. Sie winkte Kriesling-Schönefärb zu. Oder winkte sie ihn gar zu sich? Kriesling-Schönefärb taumelte. Steuerte den Tisch der Kanzlerin an.
„Setzen Sie sich doch zu mir“, sagte die Kanzlerin. Sie lächelte. Auf ihren Zähnen klebte Himbeermarmelade, zwischen ihren Zähnen steckten die Kerne der Himbeeren. Das müsste man jetzt fotografieren. Kriesling-Schönefärb setzte sich. „Gehen Sie doch ans Büffet und nehmen Sie sich Ihr Frühstück“, empfahl die Kanzlerin. Kriesling-Schönefärb stand auf und tat wie geheißen. Kaffee und ein Brötchen mit Fleischwurst. Ging zurück. Setzte sich wieder.
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