Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
vorher, ohne dass ich es hätte beschreiben können. Meinen Wunsch nach Sex, jetzt und sofort und schmutzig und in rauen Mengen, beschied sie abschlägig. „Keine Zeit, mein Lieber. Als Geschäftsfrau steh ich ständig unter Strom und überhaupt: Sex macht mich nicht mehr an. Ich hab jetzt Verkehr mit Kostennutzenrechnungen. Wow!“
Ich verstand wieder einmal kein Wort. „Na“, erklärte sie, „ich bin jetzt Geschäftsführerin der Bauernschenke! Die Zwillinge hatten nach all der Aufregung die Nase voll und haben sich aus dem Business zurückgezogen. Sie machen jetzt ökologischen Landbau in der Toskana. Und ich manage den Laden und schau mal, ob ich ihn irgendwie zum Eventplace pimpen kann, if you know what I mean.“ Ich knowte nicht und schaute entsprechend. Hermine lachte. „Englisch Volkshochschule, aber hey man, I don’t give a fuck on it.“
„Und die Geldlosigkeit?“ fragte ich beklommen. Hermine winkte ab. „Ist vorerst gecancelt worden. Eurokrise macht irgendwie auch mehr Spaß. Nur die Isländer bleiben störrisch und schwören auf Tauschhandel. Die Griechen würden auch gern, aber die haben grad nix zum Tauschen. Das sind schlechte Zeiten für innovative Menschen.“
Apropos innovativ. Oxana hatte mir berichtet, Marxer sei gerade dabei, den Krimi neu zu erfinden. Auch Hermine konnte das bestätigen. „Jau, und wie. Er will ihn vorsichtig der Literatur annähern, etappenweise, damit die Leser nicht überfordert sind. Hat er das geschafft, will er sie dran gewöhnen, beim Lesen zu denken. Reichlich utopisch, wenn du mich fragst.“
Ich jammerte noch ein wenig und drohte, einen Sexkrimi zu schreiben. Die ersten Sätze hätte ich bereits. „Er kramte sein Fortpflanzungswerkzeug hervor und begann damit, ihren Hormonhaushalt zu sanieren.“ „Klingt gut“, bestätigte Hermine. „Mach das mal. Das bringt dich auf andere Gedanken. Schreiben heißt ja sublimieren oder so, sagt Marxer. Wer schreibt, braucht keinen Sex und das trifft sich gut, denn er hat normalerweise auch keinen.“
Irgendwie gefiel mir diese neue Hermine so wenig wie die neue Welt. Sie hatte auch keine Zeit mehr – Hermine jetzt, die Welt hatte alle Zeit der Welt – sie musste zur Bank, um ihren Kreditrahmen auszuschöpfen. Ich blickte ihr traurig und sehnsüchtig nach. Das Koma war gar nicht so schlecht gewesen.
555
Überall lagen kleine verdreckte Deutschlandfähnchen im Rinnstein. Menschen gingen gedankenverloren durch die Straßen und formten mit den Lippen die deutsche Nationalhymne. Einigkeit und Recht auf Freizeit, viertes deutsches Vaterland. An jeder Ecke stand ein Leierkastenmann und bat um milde Gaben, ehemalige Typen vom Verfassungsschutz, denen das Hobby Aktenschreddern zum Verhängnis geworden war und die nun um milde Gaben betteln mussten. Ich fühlte mich elend. Schwach auf den Beinen, verwirrt im Kopf.
Noch immer war ich Patient und der Doktor hatte sich ausbedungen, mich noch einen Tag zur Beobachtung in der Klinik zu behalten. Erschöpft und deprimiert kehrte ich von meinem ersten Ausflug zurück, zog meinen Schlafanzug an und legte mich ins Bett. Ich hätte den Fernseher anmachen können, zog das Starren gegen die Decke jedoch als interessanteres Programm vor. Ein forsches Klopfen an meine Tür beendete mein Vergnügen.
„Gruezi“, sagte eine weibliche Stimme. Ich drehte mich zur Tür um und erstarrte. Eine junge Frau mit langen blonden Haaren war eingetreten, sie trug eine Tigerfellhose, ein löchriges Shirt und blaue Glitzersandalen. Ihre Beine waren ungefähr zwei Kilometer lang. Ich fuhr die Strecke langsam und konzentriert mit meinen Augen ab.
„Ich bin das Gritli Moser von der Kripo“, sagte die Frau und versteckte ihr Schweizerdeutsch nur unzulänglich. „Dess isch jetzt huere geil gsi dass Sie wieder wach si.“ Ich nickte. Fand ich irgendwie auch. „Ich bemühe mich, Schriftdeutsch zu reden, aber ich muss sie jetzt befragen, Sie wisset scho wieso.“ Ich nickte abermals. „Fragen Sie nur, Frau Moser, aber ich muss sie jetzt schon enttäuschen. Ich weiß von nichts.“
Gritli Moser schnappte sich den Besucherstuhl und setzte sich an mein Bett. Wie eine Polizistin sah sie wirklich nicht aus, also war sie wirklich eine. „An was erinnern Sie sich denn noch?“ fragte sie und ich antwortete vage: „An einen mächtigen Gong, der in meinem Kopf geschlagen wurde. An sonst nichts.“ „Und an das Vorher?“ „Es gibt kein Vorher“, sagte ich düster. „Ich hab keine Ahnung, wer
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