TS 72: Das Erbe von Hiroshima
Draußen rauschte der Verkehrslärm, brach sich an den Kreuzungen und brandete an den Mauern der Häuser empor. Erst in Höhe der oberen Stockwerke verlor er seine Kraft und wurde zu einem fernen Gemurmel. Man mußte schon aufmerksam lauschen, wollte man ein Fahrzeug von dem anderen unterscheiden, denn die vielen Einzelgeräusche waren nun zu einem einzigen verschmolzen und bildeten in ihrer Einheit die Symphonie einer ganz normalen Großstadt.
In diesem Fall hieß sie London.
London im Jahre 1972 …
Das Fenster zur Straße hin stand weit offen, und der Verkehrslärm drang in den dämmerigen Raum und erreichte die Ohren der jungen Frau, die einsam und still an einem Tisch saß.
Ann Britten mochte die einsamste Frau der Welt sein. Ja, sie war sogar sicher, es zu sein. Niemand stand den Menschen so fern wie sie, die sie die Menschen so sehr liebte.
Vor ihr auf dem Tisch lag die ausgebreitete Tageszeitung. Ihre Augen starrten auf die fetten Schlagzeilen, ohne sie zu sehen. Draußen sank allmählich die Dämmerung herab. Im Zimmer würde es bald dunkel sein, aber Ann machte keine Anstalten, das Licht einzuschalten.
Heute hatte sie Lex Harnahan wiedergefunden, ihren um fünfzehn Jahre älteren Jugendfreund. Der ehemalige Privatdetektiv und jetzige Schriftsteller war ihr um die halbe Erde gefolgt, nur eine vage, halbverwehte Spur als dürftigen Anhaltspunkt. Und heute, als sie ihn müde und verzweifelt dicht neben sich – nur einige Tische entfernt – in einem Café hatte sitzen sehen, war ihr Mitleid stärker gewesen als ihre Vorsätze. Sie hatte sich zu erkennen gegeben.
Das Erscheinen Lex Harnahans mußte Ann Britten bis in die Grundfesten ihrer Seele erschüttern. Nicht etwa, weil sie ihn unbewußt liebte, sondern nur deshalb, weil sein Auftauchen die Erinnerung an das wieder aufweckte, das sie längst vergessen glaubte. Würde die Jagd wissensdurstiger Forscher auf sie nun wieder beginnen? Oder würde Lex schweigen?
Sie fand keine Antwort auf ihre Fragen, und so blieb ihr nichts anderes übrig, als dem Wort ihres Freundes Glauben zu schenken, der ihr versprochen hatte, sie heute abend aufzusuchen und keinem Menschen zu verraten, wohin er ginge.
Sie seufzte und sah auf die altmodische Wanduhr, die unbeirrt tickte, als ginge sie das alles nichts an. Lex würde in einer Stunde eintreffen.
Eine Stunde blieb ihr noch, sich vorzubereiten. Sie mußte ihn überzeugen, daß sie recht gehandelt hatte, und das würde nicht leicht sein. Kein Mensch konnte von der Richtigkeit ihres Handelns überzeugt sein. Manchmal zweifelte sie sogar selbst.
Für sie sollte der heutige Abend eine Generalprobe sein, ein letztes Gericht in gewissem Sinne. Wenn Lex sie nicht verstand, wollte sie aufgeben. Wenn er ihr jedoch zustimmte, dann würde sie ihren Kampf weiterführen, ja, ihn erst recht beginnen. Sie mußte die Gabe, die ihr eine allwissende Natur in den Schoß gelegt hatte, nicht brachliegen lassen. Vielleicht hing sogar das Schicksal einer ganzen Menschheit von ihrem Entschluß ab.
Eine kurze oder endlos lange Stunde blieb ihr, noch einmal das Geschehen ihres siebenundzwanzigjährigen Lebens vorüberziehen zu lassen, um eine Entscheidung fällen zu können. Die Entscheidung nämlich, vor die sie das Geschick gestellt hatte.
Während der Lärm draußen abebbte und die Dunkelheit zunahm, versank für Ann Britten die Gegenwart und wurde zu einer gegenstandslosen und ungewissen Zukunft. Die Vergangenheit wurde lebendig und ergriff noch einmal von ihr Besitz.
Drei Jahrzehnte schrumpften im Strom der Zeit, wurden zu einer einzigen Sekunde. Den Anfang kannte auch Ann nur vom Hörensagen, aber er hatte sich als entscheidender Faktor so tief in ihr Gehirn eingebrannt, daß sie ihn niemals würde vergessen können.
Sie hob den Kopf und starrte gegen die Wand des in Dunkelheit getauchten Zimmers. Ihr war, als wiche diese Wand plötzlich zurück und mache einer riesigen Bühne Platz, auf der die Geschehnisse abzurollen begannen, sorgfältig von einem unsichtbaren Regisseur in die richtige Reihenfolge geordnet …
1.
Bob Britten ließ den ganzen Tag das Telefon nicht aus den Augen. Die fieberhafte Spannung des Institutes berührte ihn kaum, da sie von seiner eigenen überlagert wurde.
Selbst die überraschende Ankunft von Professor Oberhauser konnte ihn nicht von seiner Unruhe abbringen. Er blieb weiterhin in seinem Büro und starrte auf das Telefon. In jeder Sekunde konnte die Nachricht eintreffen, daß seine Frau die
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