Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
unbenutzt wegwarf. Wies Fabio an den richtigen Tagen im Dunkeln zurück, indem sie Heute geht’s nicht zu ihm sagte.
Er führte ebenfalls Buch, heimlich. Wie eine glitschige, unsichtbare Schlange schlich sich Alices Geheimnis in ihre Beziehung und entfernte sie immer weiter voneinander. Sobald Fabio einen Arzt erwähnte oder eine Therapie oder Gründe für das Problem andeutete, verfinsterte sich Alices Miene, und es stand fest, dass sie bald schon, spätestens in ein paar Stunden, einen Vorwand zum Streit, irgendeine Nichtigkeit, gefunden haben würde.
Die Anstrengung, die sie all das kostete, hatte beide langsam in die Knie gezwungen. Sie redeten immer weniger miteinander, und mit den Gesprächen wurde auch der Sex immer seltener, reduzierte sich auf ein mühsames Ritual am Freitagabend. Nacheinander gingen beide sich waschen, sowohl davor als auch danach. Mit noch von der Seife glänzendem Gesicht und frischer Wäsche am Leib kam Fabio aus dem Bad. Unterdessen hatte sich Alice bereits ein T-Shirt übergezogen und fragte: Kann ich jetzt rein? Und wenn sie dann ins Schlafzimmer zurückkam, schlief er bereits oder lag zumindest mit geschlossenen Augen auf der Seite und mit dem ganzen Körper nur in seiner Betthälfte da.
An diesem Freitag war nichts anders als sonst, zumindest anfangs. Es war bereits nach eins, als Alice zu ihm ins Bett kam, nachdem sie den ganzen Abend in der Dunkelkammer zugebracht hatte, die er ihr als Geschenk zu ihrem dritten Jahrestag im früheren Arbeitszimmer eingerichtet hatte. Er ließ die Illustrierte sinken, in der er las, und blickte auf die nackten Füße seiner Frau, die über den Parkettboden schlurfend auf ihn zukamen.
Alice schlüpfte unter die Leintücher und drückte sich an ihn. Fabio ließ die Illustrierte zu Boden fallen und schaltete die Nachttischlampe aus. Obwohl er sich größte Mühe gab, diesen Ablauf nicht wie eine alte Gewohnheit, ein notwendiges Opfer, aussehen zu lassen, wussten doch beide genau Bescheid.
Sie hielten sich an eine bestimmte Handlungsabfolge, die sich mit der Zeit bewährt hatte und alles einfacher machte, und dann drang Fabio, die Finger zu Hilfe nehmend, in sie ein.
Alice war sich nicht sicher, ob er wirklich weinte, denn er hatte seinen Kopf so zur Seite geneigt, dass er nicht mit ihrer Haut in Berührung kam, doch daran, wie er sich bewegte, merkte sie, dass etwas anders war. Er stieß heftiger zu, als sie es gewohnt war, drängender, brach dann plötzlich ab, atmete nur laut und setzte dann wieder an, wie hin- und hergerissen zwischen dem Verlangen, noch tiefer in sie einzudringen, und dem Wunsch, aus ihr hinauszugleiten und aus dem Zimmer zu fliehen. Sie hörte, wie er, schwer atmend, die Nase hochzog.
Als er fertig war, zog er sich hastig aus ihr zurück, stand auf und ging, ohne auch nur Licht zu machen, ins Badezimmer hinüber.
Länger als gewohnt blieb er dort drinnen. Alice rutschte in die Mitte des Bettes, wo die Leintücher noch frisch waren, legte eine Hand auf ihren Unterleib, in dem wieder nichts passierte, und dachte zum ersten Mal, dass sie niemanden mehr hatte, dem sie die Schuld zuschieben konnte, dass all diese Fehler nur auf ihr eigenes Konto gingen.
Im Halbdunkel durchquerte Fabio das Zimmer und legte sich, ihr den Rücken zuwendend, neben sie. Nun war Alice an der Reihe, doch sie rührte sich nicht. Denn sie spürte, dass sich etwas anbahnte, es lag in der Luft.
Er brauchte noch eine Minute, vielleicht auch zwei, bevor er begann.
»Ali«, sagte er.
»Ja?«
Er zögerte wieder.
»Ich kann so nicht weiter«, sagte er leise.
Alice spürte, wie diese Worte ihren Unterleib zusammenpressten wie Schlingpflanzen, die plötzlich aus dem Bett hervorsprossen. Sie antwortete nicht, ließ es zu, dass er fortfuhr.
»Ich weiß, was dahintersteckt.« Seine Stimme klang nun deutlicher, stieß mit einem metallischen Klang an die Wände. »Du willst nicht, dass ich mich damit beschäftige, ja noch nicht mal, dass ich es anspreche. Aber so …«
Er brach ab. Alices Augen waren geöffnet, hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Sie konnte die Umrisse der Möbel ausmachen, des Sessels, des Kleiderschranks, der Kommode mit dem Spiegel darüber, der nichts widerspiegelte. Sie standen da wie immer an ihrem Platz, erschreckend starr.
Alice dachte an das Schlafzimmer ihrer Eltern und überlegte, dass sie sich ähnlich waren, dass sich alle Schlafzimmer der Welt ganz ähnlich waren. Sie fragte sich, wovor sie wirklich Angst hatte,
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