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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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ihn zu verlieren oder diese Dinge zu verlieren: die Vorhänge, die Bilder, den Teppich, diese ganze ordentlich gefaltete Sicherheit in den Schubladen.
    »Heute Abend hast du gerade mal zwei kleine Zucchini gegessen«, sprach Fabio weiter.
    »Ich hatte eben keinen Hunger«, erwiderte sie, fast automatisch.
    Da haben wir’s wieder, dachte er.
    »Gestern genauso. Das Fleisch hast du gar nicht angerührt. Du hast es zerteilt und die Stückchen dann in der Serviette verschwinden lassen. Hältst du mich wirklich für so blöd?«
    Alices Hand verkrampfte sich in der Bettdecke. Wie hatte sie nur glauben können, dass er nie etwas merkte? Sie sah sich selbst in dieser Szene, die sich Hunderte, Tausende Male direkt vor den Augen ihres Ehemanns abgespielt hatte. Sie war wütend wegen all der Dinge, die er im Stillen über sie gedacht haben musste.
    »Wahrscheinlich weißt du auch, was ich gestern und vorgestern und vorvorgestern gegessen habe«, sagte sie.

    »Nein. Aber erklär mir mal, was da los ist«, erwiderte er nur, jetzt mit lauter Stimme. »Sag mir, warum Essen etwas so Widerliches für dich ist.«
    Sie dachte an ihren Vater, der sich beim Essen ganz tief über den Suppenteller beugte, an das Geräusch, das er dabei machte, so als würde er an dem Löffel saugen, anstatt ihn einfach in den Mund zu stecken. Angeekelt dachte sie an den gekauten Brei, den ihr Mann jedes Mal, wenn sie sich beim Essen gegenübersaßen, zwischen den Zähnen hatte. Sie dachte an Violas Fruchtbonbon, mit all den Haaren daran und seinem künstlichen Erdbeergeschmack. Dann dachte sie an sich selbst, ohne T-Shirt in dem Spiegel in ihrem alten Zimmer im Haus ihrer Eltern und an die Narbe, die aus ihrem Bein ein separates Teil machte, vom Rumpf abgetrennt und zu nichts nütze. Sie dachte an das so fragile Gleichgewicht ihrer Gestalt, an die schmalen Schattenstreifen, die ihre Rippen auf den Bauch warfen und die sie um jeden Preis verteidigen würde.
    »Was verlangst du denn von mir? Dass ich anfange, mich vollzustopfen? Dass ich mich verunstalte, um dein Kind zu bekommen?«, sagte sie. Sie redete, als gebe es das Kind bereits, irgendwo im Universum. Und es war Absicht, dass sie dein Kind sagte. »Aber wenn dir so viel daran liegt, mach ich eben eine Therapie. Ich kann auch Hormone nehmen, Medikamente, den ganzen Dreck, der notwendig ist, um dieses Kind zu bekommen. Dann hörst du wenigstens auf, mich zu überwachen.«
    »Darum geht es doch gar nicht«, erwiderte Fabio. Mit einem Male hatte er seine ganze beängstigende Selbstsicherheit wiedergewonnen.
    Alice rückte zum Rand des Bettes, um sich von seinem
bedrohlichen Körper zu entfernen, während er sich auf den Rücken drehte. Seine Augen waren geöffnet und seine Züge verzerrt, so als versuche er, etwas jenseits der Finsternis zu erkennen.
    »Ach nein?«
    »Nein. Aber du solltest dir mal überlegen, welche Risiken du eingehst, besonders mit deiner Konstitution.«
    Mit meiner Konstitution, wiederholte sich Alice im Geiste. Instinktiv versuchte sie, ihr schwaches Knie zu beugen, um sich selbst zu beweisen, dass sie dazu imstande war, doch es bewegte sich kaum.
    »Armer Fabio«, sagte sie, »hat eine Frau, die hinkt und …«
    Sie sprach es nicht aus. Dieses Adjektiv, das bereits im Raum zu vibrieren schien, kam ihr dann doch nicht über die Lippen.
    »Das Gehirn verfügt über einen Bereich«, sprach Fabio, gar nicht auf sie eingehend, weiter, so als könne eine wissenschaftliche Erklärung alles einfacher machen, »wahrscheinlich ist es der Hypothalamus, wo der Fettanteil des Organismus reguliert wird. Sinkt dieser Wert zu weit ab, wird die Produktion von Gonadotropin verhindert. Das ganze System gerät ins Stocken, und die Menstruation bleibt aus. Aber das ist nur das erste Symptom. Es kommt noch schlimmer. Die Mineraliendichte in den Knochen nimmt ab, und es kommt zur Osteoporose, bei der die Knochen wie Waffeln zerbröseln.«
    Er sprach wie ein Arzt, zählte mit monotoner Stimme Ursachen und Wirkungen auf, so als wäre das Benennen einer Erkrankung schon ihre Heilung. Alice dachte, dass ihre Knochen bereits einmal zerbröselt waren und dass sie diese Dinge gar nicht interessierten.

    »Es würde genügen, diesen Wert anzuheben, damit sich alles wieder einpendelt«, fügte Fabio hinzu. »Es ist zwar ein langer Prozess, aber noch ist es nicht zu spät.«
    Alice hatte sich auf die Ellbogen gestützt. Sie wollte raus aus diesem Zimmer.
    »Phantastisch. Wahrscheinlich hast du dir das alles schon

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