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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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nichts weiter als ein feuchtes Stofftaschentuch, das aber genügte, um seine Schwester zu beruhigen, wenn sie abends diese Anfälle bekam, bei denen sie am ganzen Leibe zitterte und die Zähne fletschte. Michela wollte, dass auch ihr Bruder solch einen Umschlag bekam, teilte es ihrer Mutter mit den Augen mit, und so legte er sich dann zu seiner Schwester aufs Bett und wartete, dass sie sich zu winden aufhörte.
    Er hatte das schwarze Jackett mit einem Hemd darunter angezogen, hatte geduscht und sich rasiert. In einem Spirituosenladen, den er nie zuvor betreten hatte, hatte er sich eine Flasche Rotwein besorgt. Die mit dem elegantesten Etikett hatte er ausgesucht, und die Dame hinter der Theke hatte sie in Seidenpapier eingewickelt und sie in eine silberne Plastiktüte gesteckt. Die ließ Mattia nun wie ein Pendel hin- und herschwingen, während er darauf wartete, dass ihm geöffnet wurde. Mit dem Fuß rückte er die Matte vor der Tür so zurecht, dass die Ränder parallel zu den Linien auf dem Fußboden verliefen.
    Albertos Frau kam an die Tür. Sowohl Mattias ausgestreckte Hand als auch die Tüte mit der Flasche übersah sie und zog ihn stattdessen an sich und gab ihm einen Kuss auf die Backe.
    »Ich weiß ja nicht, was ihr beide angestellt habt, aber ich habe Alberto noch nie so glücklich gesehen wie heute Abend«, flüsterte sie ihm zu. »Komm rein.«

    Mattia widerstand dem Drang, sein Ohr an der Schulter zu reiben, um den Juckreiz zu vertreiben.
    »Albi, Mattia ist da«, rief sie in Richtung einer Tür oder auch die Treppe zum Obergeschoss hinauf.
    Doch statt Alberto tauchte dessen Sohn im Flur auf. Mattia kannte ihn von dem Foto, das der Vater auf seinem Schreibtisch stehen hatte und Philip erst wenige Monate alt und so rundlich und austauschbar wie alle Säuglinge zeigte. Mattia hatte nie einen Gedanken daran verschwendet, dass der Junge inzwischen gewachsen sein musste. Einige Züge seiner Eltern setzten sich nun unübersehbar in seinem Gesicht durch: Albertos zu langes Kinn, die ein wenig hängenden Augenlider seiner Mutter. Mattia dachte an den grausamen Mechanismus des Wachstums, an die unmerklichen, doch unabwendbaren Veränderungen der weichen Knorpel und, einen kurzen Augenblick nur, an Michela, deren Gesichtszüge an jenem Tag im Park für immer erstarrt waren.
    Wie ein Besessener in die Pedale tretend, schoss Philip auf seinem Dreirad auf ihn zu. Als er Mattia bemerkte, bremste er abrupt ab. Er sah ihn aus großen Augen an, als sei er bei etwas Verbotenem ertappt worden. Albertos Frau hob ihn vom Dreirad und nahm ihn auf den Arm.
    »Das ist unser kleines Ungeheuer«, sagte sie, indem sie ihre Nase sanft an Philips Wange rieb.
    Mattia bedachte den Jungen mit einem verkniffenen Lächeln. Kinder brachten ihn in Verlegenheit.
    »Lass uns reingehen. Nadia ist schon da«, forderte Albertos Frau ihn auf.
    »Nadia?«, fragte Mattia.
    Albertos Frau sah ihn erstaunt an.
    »Ja, Nadia«, sagte sie. »Hat Albi nichts von ihr gesagt?«

    »Nein.«
    Ein kurzes verlegenes Schweigen entstand. Mattia kannte keine Nadia. Er fragte sich, was dahinterstecken mochte, und fürchtete die Antwort bereits zu kennen.
    »Jedenfalls ist sie da. Komm mit.«
    Während sie zum Esszimmer hinübergingen, hatte Philip Zeit, im Schutz der Schulter seiner Mutter, den Zeige- und Mittelfinger in den Mund gesteckt und die Fingerknöchel von Speichel glänzend, den Gast misstrauisch zu mustern. Mattia musste den Blick abwenden, und es fiel ihm ein, wie er Alice einmal durch einen anderen Flur gefolgt war. Während er Philips Kritzeleien betrachtete, die statt Bildern an den Wänden hingen, musste er aufpassen, dass er nicht auf das über den Fußboden verstreute Spielzeug trat. Das ganze Haus, sogar die Mauern, strahlten eine Lebendigkeit aus, die ihm fremd war. Er dachte an seine eigene Wohnung, in der es so leichtfiel, einfach zu beschließen, nicht zu existieren, und bereute er schon, die Einladung angenommen zu haben.
    Im Esszimmer begrüßte Alberto ihn mit einer herzlichen Umarmung, die er mechanisch erwiderte. Die Frau am Tisch stand auf und reichte ihm die Hand.
    »Das ist Nadia«, stellte Alberto sie vor. »Und das ist unser nächster Fields-Medaillenträger.«
    »Angenehm«, sagte Mattia verlegen.
    Nadia lächelte ihn an und neigte sich ein wenig vor, vielleicht um ihn mit einem Kuss auf die Wange zu begrüßen, doch Mattias Steifheit hielt sie zurück.
    »Angenehm«, erwiderte sie nur.
    Ein paar Sekunden lang war er ganz

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