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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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lange überlegt«, bemerkte sie. »So einfach ist das also, na wunderbar …«
    Auch Fabio setzte sich auf und ergriff ihren Arm, doch sie machte sich los. Durch das Halbdunkel hindurch schaute er ihr fest in die Augen.«
    »Das ist nicht mehr nur dein Problem«, sagte er.
    Alice schüttelte den Kopf.
    »Doch, das ist es«, sagte sie. »Hast du dir noch nie überlegt, dass ich vielleicht genau das möchte? Dass meine Knochen zerbröseln. Dass das System ins Stocken gerät, wie du es genannt hast?«
    Fabio ließ die flache Hand auf die Matratze niederfahren, sodass sie zusammenzuckte.
    »Was hast du vor?«, provozierte sie ihn.
    Fabio atmete schwer durch die Zähne. Die in seiner Lunge blockierte Kraft ließ seine Arme erstarren.
    »Du bist eine Egoistin, eine verwöhnte Egoistin.«
    Er warf sich wieder aufs Bett und wandte ihr erneut den Rücken zu. Plötzlich schienen die Dinge in der Dunkelheit auch wieder ihren angestammten Platz zu finden. Stille kehrte ein, in der Alice aber ein schwaches Brummen wahrnahm, das an das Surren alter Filme im Kino erinnerte. Sie lauschte und versuchte zu erkennen, woher es kam.
    Dann sah sie, dass das Profil ihres Mannes leicht zuckte, nahm sein unterdrücktes Schluchzen als ein rhythmisches
Vibrieren der Matratze wahr. Sein Körper bat sie, ihre Hand auszustrecken und ihn zu berühren, seinen Hals und seine Haare zu streicheln. Doch sie ließ ihn so liegen. Stand stattdessen auf, ging zum Bad hinüber und schlug die Tür hinter sich zu.

33
    Nach dem Mittagessen waren Alberto und Mattia in das Kellergeschoss hinabgestiegen, wo immer die gleiche Tageszeit herrschte und das Verrinnen der Stunden nur an der Erschöpfung der Augen durch das weiße Licht der Neonlampen an der Decke messbar war. Sie hatten sich einen leeren Hörsaal gesucht, wo Alberto sich aufs Dozentenpult setzte. Sein Körper war kräftig, nicht unbedingt fett, aber Mattia hatte dennoch den Eindruck, dass er sich immer weiter ausdehnte.
    »Schieß los«, sagte Alberto. »Erklär mir alles von Grund auf.«
    Mattia nahm ein Stück Kreide zur Hand und brach es in der Mitte durch. Feiner weißer Staub legte sich auf die Spitzen seiner Lederschuhe, immer noch dieselben, die er auch bei seinem Rigorosum getragen hatte.
    »Betrachten wir das Problem aus zwei Perspektiven …«
    Mit seiner schönen Handschrift begann er zu schreiben, oben in der linken Ecke, und füllte die ersten beiden Tafeln mit Zahlen und Zeichen. Auf der dritten hielt er noch einmal
alle Ergebnisse fest, die er später noch brauchen würde. Er schien diese Berechnungen schon Hunderte Male durchgeführt zu haben, aber es war das erste Mal, dass er sie aus dem Kopf niederschrieb. Hin und wieder drehte er sich zu Alberto um, der mit ernster Miene nickte, während sein Verstand Mattias Kreide hinterherhechelte.
    Als Mattia nach gut einer halben Stunde fertig war, schrieb er, wie früher als Junge, q.e.d. neben das eingerahmte Endergebnis. Die Kreide hatte die Haut seiner rechten Hand trocken werden lassen, doch er bemerkte es gar nicht. Seine Beine zitterten leicht.
    Versunken schwiegen beide eine ganze Weile. Dann klatschte Alberto in die Hände, und wie ein Peitschenhieb hallte der Knall von den Wänden wider. Als er vom Pult sprang, wäre er fast gefallen, weil ihm nach dem langen Sitzen auf der Kante die Beine eingeschlafen waren. Er legte Mattia eine Hand auf die Schulter, die dieser als schwer und gleichzeitig auch beruhigend empfand.
    »Heute Abend gibt’s keine Ausreden«, sagte er. »Heute kommst du zu uns zum Essen. Das muss gefeiert werden.«
    Mattia lächelte schwach.
    »Okay«, sagte er.
    Zusammen wischten sie die Tafel sauber, darauf bedacht, dass nichts mehr zu lesen, nicht die geringste Spur dessen zu erkennen war, was Mattia darauf geschrieben hatte. Obwohl niemand imstande gewesen wäre, die Beweisführung zu verstehen, hüteten sie dieses Ergebnis bereits so stolz wie ein wunderbares Geheimnis.
    Sie löschten alle Lichter, verließen den Hörsaal und stiegen dann die Treppe hinauf, hintereinander, ein jeder für sich den Triumph dieses Augenblicks auskostend.

    Das Wohngebiet, in dem Albertos Haus lag, sah fast genauso aus wie das, in dem Mattia wohnte, erstreckte sich aber am anderen Ende der Stadt. Mattia stieg in einen halb leeren Stadtbus ein und legte die Stirn an die Scheibe. Die Berührung mit der kühlen Oberfläche verschaffte ihm Erleichterung; sie erinnerte ihn an die Binde, die seine Mutter Michela auf die Stirn gelegt hatte,

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