Die Einsamkeit des Langstreckenläufers. Erzählung.
wie ich die Böschung runterschlitter, weil ich mir doch das Genick oder den Fuß brechen könnte, aber ich kann das nicht lassen, weil's das einzige Brenzlige und das einzige Aufregende ist, was ich hier erleb, flach loszufliegen wie eine von den Flugeidechsen aus der›Versunkenen Welt‹, von der ich mal im Radio gehört hab, besessen wie ein kastrierter junger Hahn, und ich zerkratze mich vollkommen und laß mich beinah gehn, aber nicht ganz. Das ist die schönste Minute, weil's da in meinem Kopf weder einen Gedanken noch ein Wort noch ein Bild noch sonst was gibt, solange ich abwärts schieß. Leer bin ich, so leer wie vor meiner Geburt, und ich vermute, ich laß mich deshalb nicht ganz gehn, weil da was tief in meinem Innern ist, das nicht will, daß ich sterbe oder mich sehr verletze. Und es ist so albern, tief nachzudenken, nicht wahr, weil's einen nicht weiter bringt, obwohl ich ganz tiefschürfend werde, wenn ich an dieser Stelle vorbei bin, wo ich die Hälfte hab, weil mir beim frühmorgendlichen Langstreckenlauf der Gedanke kommt, daß ein jeder solcher Lauf ein Leben für sich ist - ein kleines Leben, weiß ich -, aber ein Leben voller Elend und Glück und voller Ereignisse, wie man sie nur erleben kann - und ich weiß noch, daß ich nach diversen Läufen geglaubt hab, man brauche nicht viel Grips, um vorauszusagen, wie ein Leben enden wird, wenn's erst mal richtig losgegangen ist. Aber wie üblich hab ich mich geirrt, erst von der Polente erwischt, dann von meinem eigenen stumpfsinnigen Verstand reingelegt, da könnt ich mich nicht drauf verlassen, daß ich ungestraft über diese Hindernisse fliege, ich bin früher oder später immer gestolpert, egal, über wie viele ich, selbst ohne es zu wissen, gut weggekommen bin. Wenn ich so zurückblick, haben sich die großen Bäume vermutlich die Zweige vor die Schnute gehalten und sich dahinter zugezwinkert, und ich bin die Böschung runtergezwitschert und hab absolut nichts gesehn.
II
Ich halte mir nicht vor:›Du hättest das Ding nicht drehen sollen, da wärst du nicht im Borstal gelandet!‹Nein, was ich meinem Läufergehirn einbleue, ist, daß es nicht schön war von meinem Glück, sich dünne zu machen, gerade wo ich die Bullen fast so weit hatte, daß sie glaubten, ich sei's trotz allem nicht gewesen. Es war Herbst, und die Nacht war so neblig, daß es mich und meinen Kumpel Mike raustrieb, durch die Straßen zu bummeln, statt fest verankert vorm Fernseher oder in einem piekfeinen Plüschsessel im Kino zu sitzen, aber nach sechs Wochen, ohne irgendwas zu tun, wurde ich kribbelig, und klar könnt ihr fragen, wieso ich so lange keinen Finger gerührt habe, weil ich mir doch normalerweise an einer Fräse mit den anderen zusammen die schwache Seele aus dem Leib schwitze, aber versteht ihr, mein Vater war an Kehlkopfkrebs gestorben, und Mama hat glatt fünfhundert Eier kassiert, von der Versicherung und Unterstützung von der Fabrik, wo er gearbeitet hat,›für den schmerzlichen Verlust‹, hieß es oder so ähnlich.
Nun glaub ich, und Mama muß genauso gedacht haben, daß ein Packen nagelneuer blauschwarzer Fünfpfundnoten keiner lebenden Seele auch nur das mindeste nützt, wenn sie nicht aus deiner Hand in irgendeine Ladenkasse flattern und dir der Ladenbesitzer nicht dafür eine erstklassige Ware über den Tisch schiebt; deshalb hat Mama, sobald sie das Geld hatte, mich und meine fünf Geschwister mit in die Stadt genommen und uns neu eingepuppt. Dann hat sie einen Fernseher mit 53er Röhre und einen neuen Teppich gekauft, weil der alte noch von Papas Tod mit Blut bespritzt war, das nicht rausging, und eine Taxe nach Hause genommen, mit Taschen voller Fourage und einem neuen Pelzmantel. Und denkt nur mal - ihr werdet's nicht glauben, wenn ich's sage -, am nächsten Tag hatte sie in der prallen Handtasche immer noch fast dreihundert übrig, wie konnte dabei also einer von uns auf Arbeit gehn? Der arme alte Papa, der konnte sich nicht mehr dran beteiligen, wo er doch derjenige war, der gelitten hat und gestorben ist für diesen Batzen Geld.
Abend für Abend haben wir vorm Fernseher gehockt, ein Schinkenbrot in der einen, einen Riegel Schokolade in der andren Hand und eine Limo zwischen den Latschen, während Mama mit irgendeinem Verehrer in dem neuen Bett lag, das sie sich angeschafft hatte, und ich hab noch keine Familie gesehn, die so glücklich war wie wir in den zwei Monaten, als wir so viel Geld hatten, wie wir brauchten. Und als der Zaster
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