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Die einzige Wahrheit

Die einzige Wahrheit

Titel: Die einzige Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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vors Gesicht. »Tut mir leid«, sagte sie. »Als ich – den Leichnam gesehen hab – mußte ich an meine Schwester denken.«
    »Die gestorben ist?«
    Katie nickte. »Sie ist ertrunken, als sie sieben war.«
    Lizzie schaute zu den Feldern hinüber, ein grünes Meer, das sich in der leichten Brise kräuselte. In der Ferne wieherte ein Pferd, und ein anderes antwortete ihm. »Wissen Sie, was mit dem Baby passiert ist?« fragte Lizzie leise.
    Katie verengte die Augen. »Ich lebe auf einer Farm.«
    »Aber es gibt Unterschiede zwischen Tieren und Frauen. Wenn Frauen gebären und nicht medizinisch versorgt werden, bringen sie sich in große Gefahr.« Lizzie stockte. »Katie, gibt es vielleicht irgend etwas, das sie mir sagen möchten?«
    »Ich hab kein Baby bekommen«, antwortete Katie. »Wirklich nicht.« Aber Lizzie starrte auf den Verandaboden. Auf den weiß gestrichenen Dielenbrettern war ein rotbrauner Fleck. Und an Katies nacktem Bein rann langsam Blut herab.

2
Ellie
I n meinen Alpträumen sah ich lauter Kinder. Vor allem sechs kleine Mädchen, deren Knie unter den karierten Trägerröcken der St.-Ambrose’s-Schuluniform hervorschauten. Ich sah sie innerhalb eines Augenblicks erwachsen werden; in dem Moment, als die Geschworenen meinen Mandanten freisprachen, den Grundschulrektor, der sie sexuell mißbraucht hatte.
    Es war mein größter Triumph als Anwältin in Philadelphia; der Urteilsspruch, der mich mit einem Schlag bekannt machte und nach dem mein Telefon nicht mehr stillstand, weil dauernd andere angesehene Bürger der Stadt anriefen, die durch die Gesetzeslücken schlüpfen wollten. Am Abend des Urteilsspruchs lud Stephen mich in »Victor’s Café« ein. Für das Geld hätten wir einen Gebrauchtwagen kaufen können. Er erzählte mir, daß die beiden Seniorpartner seiner Kanzlei, der renommiertesten der Stadt, mich zu einem Gespräch eingeladen hatten.
    »Stephen«, sagte ich erstaunt, »als ich mich vor fünf Jahren bei euch vorgestellt habe, hast du gesagt, du könntest keine Beziehung zu einer Frau in deiner Kanzlei haben.« Er zuckte die Achseln. »Vor fünf Jahren«, sagte er, »war vieles anders.«
    Er hatte recht. Vor fünf Jahren bastelte ich noch an meiner eigenen Karriere. Vor fünf Jahren glaubte ich noch, daß der Hauptnutznießer eines Freispruchs mein Mandant sei und nicht ich. Vor fünf Jahren hätte ich von einer Chance, wie Stephen sie mir in seiner Kanzlei anbot, nur träumen können.
    Ich lächelte ihn an. »Wann soll das Gespräch stattfinden?«
    Später entschuldigte ich mich und ging zur Toilette. Die Toilettenfrau wartete geduldig neben einem Tablett mit Make-up, Haarspray und Parfüm. Ich ging in eine Kabine und fing an zu weinen – um diese sechs kleinen Mädchen, um die Beweise, die ich erfolgreich unterschlagen hatte, um die Anwältin, die ich hatte werden wollen, als ich vor Jahren mein Jurastudium abschloß – noch so voller Prinzipien, daß ich diesen Fall niemals angenommen, erst recht nicht so schwer dafür gearbeitet hätte, ihn zu gewinnen.
    Ich kam wieder heraus und drehte den Wasserhahn auf. Ich schob die Seidenärmel meiner Kostümjacke hoch und seifte meine Hände gründlich ein. Jemand tippte mir auf die Schulter, und als ich mich umsah, stand die Toilettenfrau hinter mir und hielt mir ein Handtuch hin. Ihre Augen waren hart und dunkel wie Kastanien. »Schätzchen«, sagte sie, »manche Flecken kriegst du einfach nie mehr weg.«
    In meinen Alpträumen gab es noch ein anderes Kind, aber sein Gesicht hatte ich nie gesehen. Es war das Baby, das ich nie gehabt hatte, und so, wie die Dinge standen, auch nie haben würde. Viele Menschen machten Witze über die biologische Uhr, aber in Frauen wie mir gab es sie nun mal – obwohl ich das Ticken niemals als Weckruf verstanden hatte, sondern eher als Auftakt zu einer Bombenexplosion. Zögern, zögern, und dann – wumm! – hatte man die letzte Chance vertan.
    Falls ich es noch nicht erwähnt habe: Stephen und ich wohnten seit acht Jahren zusammen.
    Am Tag nach seinem Freispruch schickte mir der Schulleiter von St. Ambrose’s zwei Dutzend rote Rosen. Stephen kam in die Küche, als ich sie gerade in den Müll stopfte.
    »Was machst du denn da?«
    Ich drehte mich langsam zu ihm um. »Quält dich eigentlich nie der Gedanke, daß du, wenn du einmal die Grenze überschritten hast, nicht mehr zurückkannst?«
    »Herrgott, jetzt redest du wieder wie Konfuzius.«
    »Ich wollte einfach nur wissen, ob es dich nicht packt. Genau

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