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Die einzige Zeugin

Die einzige Zeugin

Titel: Die einzige Zeugin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Cassidy
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Prozess ihres Vaters. Diese Worte hatte sie seit Jahren nicht mehr gehört. Sie ging weiter, ohne etwas zu sehen, hielt den Kopf gesenkt und setzte einen Fuß vor den anderen. Eine Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht, und sie strich sie zurück hinters Ohr. Nach wenigen Schritten stieß sie mit jemandem zusammen.
    »Pass doch auf, wo du hinläufst!«
    Sie hob den Kopf. Vorher stellte sie noch fest, dass sich der Inhalt einer Einkaufstüte auf dem Bürgersteig verteilt hatte. Sie blickte in das Gesicht eines Jungen und dann wieder auf den Boden, wo Kartoffeln und Zwiebeln auf die Straße rollten. Sie murmelte mehrmals Entschuldigung und bückte sich, um das Gemüse aufzuheben. Der Junge hatte seine andere Tüte auf den Boden gestellt und sammelte ein paar Zwiebeln ein.
    »Die hält nicht mehr«, sagte sie und zeigte auf einen Riss am Boden der Tüte. Sie hielt in beiden Händen Kartoffeln und Zwiebeln. Als sie den Jungen wieder ansah, erkannte sie ihn. Es war der Junge, den sie in ihr altes Haus hatte gehen sehen. Dann hatte er aus dem Fenster im ersten Stock zu ihr hinuntergeschaut. Jetzt stand er vor ihr, eine Tüte in der einen Hand und Zwiebeln in der anderen. Seine lockigen Haare sahen strubbelig aus, als wären sie länger nicht gekämmt worden. Er hatte Bartstoppeln im Gesicht.
    »Kennen wir uns nicht?«, fragte er und grinste sie an.
    Sie schüttelte den Kopf und hielt ihm sein Gemüse hin. Er machte eine hilflose Geste. Er hatte keine Hand mehr frei.
    »Ich wohne gleich da drüben«, sagte er und zeigte auf ihr altes Zuhause. »Steck sie mir einfach in die Tasche. Hey, ich bin sicher, dass ich dich kenne.«
    »Soll ich die wirklich in deine Tasche …«
    Sie hielt ihm die Kartoffeln hin, und als er nickte, steckte sie ihm ein paar in die eine Jackentasche und ein paar in die andere. Seine Jacke war geöffnet. Darunter trug er ein T-Shirt mit der Aufschrift Cuba . Die plötzliche Nähe war ihr unangenehm und sie vermied es, ihm in die Augen zu sehen. Sie konnte ganz leicht sein Deo riechen. Die andere Tüte war ebenfalls zu schwer, das konnte sie sehen. Ihre Griffe konnten jeden Moment reißen.
    »Beeil dich lieber«, sagte sie.
    »Irgendwoher kenne ich dich«, sagte er.
    Sie schüttelte den Kopf, machte einen Schritt an ihm vorbei und setzte ihren Weg fort. Er blieb mit seiner lädierten Plastiktüte und seinen Jackentaschen voller Kartoffeln auf dem Bürgersteig stehen. Sie schaute starr nach vorne und ging wieder an dem Mehrfamilienhaus und der Arztpraxis vorbei. Gerade hielt ein Bus an der Haltestelle. Die Jugendlichen waren weg, aber der alte Mann mit dem Hund war immer noch da. Sie lief weiter bis zur Hauptstraße und wartete an der Bushaltestelle, an der ihr Bus fuhr. Sie würde nicht mehr herkommen.
    Sie würde nicht mehr auf der Straße herumlungern und um das Haus streunen wie ein verirrter Hund. Sie rieb die Handflächen aneinander. Sie waren erdig von den Kartoffeln.
    Sie würde die Hazelwood Road Nummer 49 hinter sich lassen.
    Das Haus gehörte jetzt anderen Leuten.

4
    Jessica war nicht da, als Lauren nach Hause kam. Dafür saß Donny am Küchentisch und sah seine Post durch. Neben ihm lag ein kleiner Haufen geöffneter Umschläge und gelesener Briefe oder Rechnungen. Er musste mit seinem eigenen Schlüssel hereingekommen sein.
    »Hallo«, sagte sie und hängte ihre Tasche über einen Küchenstuhl.
    »Wie war dein Tag?«, fragte er und lächelte ihr vorsichtig zu.
    Sie zuckte die Schultern.
    »Meiner war die Hölle. Einer aus der Zehnten hatte ein Messer dabei und hat damit einen Mitschüler bedroht. Außerdem haben wir einen schlechten Inspektionsbericht bekommen, den ich mir jetzt noch bis zu unserer Konferenz morgen früh um acht durchlesen darf. Mit anderen Worten, ein Scheißtag.«
    Sie brummte ein Mmmh, und Donny wandte sich wieder seiner Post zu. Sie hatte keine Lust, mit Donny zu plaudern, als wäre nichts passiert. Obwohl sie eine Menge zu erzählen hätte. Mit ihrer Theatergruppe hatte sie in der kommenden Woche eine Aufführung. Auf ihren Aufsatz in Geschichte hatte sie eine 2+ bekommen, und sie hatte sich ein Thema für ihr Kunstprojekt ausgesucht: Puppenhäuser. Sie hätte Donny davon erzählen können, aber sie wollte nicht.
    Wovon sie ihm wirklich gern erzählt hätte, waren ihre Ausflüge in die Hazelwood Road und ihre Begegnung mit ihrer früheren Nachbarin. Wenn ihr sonst etwas wegen ihrer Familie auf dem Herzen gelegen hatte, hatte sie meistens mit Donny darüber gesprochen.

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