Die einzige Zeugin
Vielleicht ein Anflug von Trauer oder Bedauern. Wieder wollte sie die Hand nach ihm ausstrecken, um ihm zu sagen, Es ist Jessie, deine Jessie ! Aber er lehnte sich zurück, sammelte seine Post zusammen und hielt sie vor sich wie einen Schutzschild.
»Ich bin wieder da«, rief Jessica und kam in die Küche, Plastiktüten in den Händen. »Donny! Ich habe dein Auto gar nicht gesehen.«
Jessica stellte die Tüten auf der Arbeitsplatte ab und drehte sich zu ihnen um. Ihr Gesicht strahlte, ihr Ton war höflich. Das war falsch, Lauren wusste es, eine Maske.
»Wie geht es dir?«, fragte sie fröhlich.
»Gut. Danke. Ich dachte, du wärst zu Hause, deswegen habe ich mich hier absetzen lassen. Da du nicht da warst, bin ich schon mal reingegangen. Ich hoffe, das war in Ordnung.«
»Natürlich. Es ist doch dein … Es kommt mir immer noch so vor, als wäre hier dein Zuhause.«
Donnys Blick sank auf die Tischplatte und wanderte hin und her. Plötzlich tauchte Kleopatra auf und strich Jessica mit aufgestelltem Schwanz um die Beine.
»Es ist fast alles Werbung. Deshalb hätte ich natürlich nicht kommen müssen«, sagte er.
»Du brauchst keinen Grund, um herzukommen. Du bist jederzeit willkommen. Schau einfach vorbei. Fühl dich wie zu hause.«
Donny stand auf und strich sich den Anzug glatt. Als Lauren eben unfreundlich zu ihm gewesen war, war er entspannt geblieben. Jetzt war er durch Jessicas Freundlichkeit in Verlegenheit gebracht worden.
Er griff nach seiner Aktentasche, doch bevor er sie fassen konnte, stand Jessica plötzlich vor ihm, legte ihm die Arme um den Hals und vergrub ihr Gesicht an seiner Brust. Donny schloss die Augen. Ob aus Überforderung oder aus Freude, konnte Lauren nicht sagen. Lauren wandte sich ab und stahl sich aus dem Zimmer. Sie schloss die Küchentür hinter sich, ging langsam nach oben und setzte sich auf den Treppenabsatz. Das Haus war so klein, dass sie immer noch die gedämpften Stimmen hören konnte. Sie versuchte, etwas herauszuhören, und hoffte, dass Jessica nicht weinte. Sie hörte sie leise reden. Jessica sagte etwas, dann Donny, dann Jessica. Alles in der gleichen Lautstärke. Vielleicht stimmte es wirklich, was sie Jessica gesagt hatte. Lass Donny etwas Zeit, und er kommt zu dir zurück. Verhalte dich so, dass er sich willkommen fühlt. Zeig ihm, dass er hier hergehört, dann kommt er eines Tages zur Tür herein und bleibt.
Sie hörte, wie Stühle gerückt wurden, dann ging die Küchentür auf. Donny kam zuerst heraus. Er hatte seine Aktentasche in der einen Hand und fuhr sich mit der anderen durch die Haare. An der Tür blieb er stehen und klopfte auf seine Jackentasche. Er wandte sich an Jessica. Lauren rutschte auf der Treppe ein Stück höher, außer Sichtweite.
»Dieser Brief wurde mir in die Schule geschickt. Er ist für Lolly.«
Stille. Lauren konnte keine Antwort von Jessica hören. Die Stille war mit Blicken und Gesten gefüllt, die sie nicht sehen konnte.
»Du solltest ihn ihr geben.«
»Warum wurde der Brief an die Schule geschickt? Woher weiß er , dass du die Schule gewechselt hast? Wie kann er das wissen?«, fragte Jessica.
»Schau dir die Anschrift an. Der Brief wurde an meine alte Schule in St. Agnes geschickt. Sie haben ihn weitergeleitet. Du weißt doch, vor Jahren hat er mir auch schon Briefe geschrieben.«
»Aber du hast sie weggeworfen«, sagte Jessica, nun beinahe flüsternd.
»Natürlich habe ich sie weggeworfen. Aber dieser Brief ist nicht an mich adressiert. Er ist für Lolly, und ich denke, sie sollte ihn lesen.«
»Ich weiß nicht …«
»Sie ist siebzehn, Jessie. Einmal muss sie erfahren, dass er versucht hat, ihr zu schreiben. Du kannst es nicht ewig vor ihr geheimhalten.«
»Ich werde es mir überlegen.«
»Ich muss jetzt los.«
Wieder war es still. Lauren schob sich näher an den Treppenabsatz heran. Sie konnte Jessicas Rücken und Donnys Anzug sehen. Sie standen nah beieinander, und die Stille war beinahe greifbar.
»Ich melde mich, um zu hören, ob alles in Ordnung ist.«
Jessica machte einen Schritt zurück, und die Tür ging auf. Eine Sekunde später war sie wieder zu und Donny war fort. Jessica drehte sich um und lief durch den Flur. Lauren stand auf und ging leise die Treppe hinunter. In der Küche lehnte Jessica an der Spüle, die Arme im Rücken verschränkt.
»Es hat gutgetan, ihn zu sehen. Es ist schön, ihn wieder hier zu haben, wenn auch nur für eine Weile«, sagte sie leichthin.
Lauren schaute auf den Tisch und suchte
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