Die einzige Zeugin
die Arbeitsplatte mit den Augen ab. Der Brief war nicht da.
»Kann ich ihn haben?«
»Wen?«
»Den Brief. Er ist doch für mich, oder nicht? Ich habe gehört, was Donny gesagt hat.«
Jessica zuckte zusammen.
»Wo ist er? Hinter deinem Rücken? Komm schon. Oder soll ich etwa raten, in welcher Hand er ist?«
Jessica ließ die Arme zur Seite sinken. In ihrer linken Hand war ein zerknitterter Brief. Sie öffnete die Hand und zögerte.
»Bitte«
»Da hast du ihn. Du weißt, von wem er ist.«
Lauren wollte verneinen, aber da tauchte etwas in ihrem Kopf auf, etwas, das dort lange sicher versteckt gewesen war. Rate, in welcher Hand es ist ! Diese Worte kamen ihr bekannt vor. Sie nahm den Umschlag. Die Anschrift von Donnys Schule in St. Agnes war mit schwarzem Filzstift durchgestrichen worden und die Worte Weiterleiten an standen vor der Adresse der neuen Schule. Die Handschrift des Absenders war zur Seite geneigt und undeutlich, als wäre der Schreiber unsicher gewesen, ob er die Worte überhaupt schreiben sollte. Während sie die Schrift betrachtete, kam ihr ein sonderbares Bild in den Kopf. Ein strahlendweiß geschminktes Gesicht mit roten Lippen und einer roten Nase, rund wie ein Tischtennisball. Ein Clownsgesicht.
»Er ist von Slater«, sagte Jessica.
Das Gesicht verschwand und Lauren starrte auf den Brief in ihrer Hand. Ihr Vater, Robert Slater, hatte ihr in seiner Gefängniszelle einen Brief geschrieben.
5
Lauren faltete den Brief zusammen und nahm ihn mit in ihr Zimmer. Sie setzte sich aufs Bett, streifte die Schuhe ab und zog die Beine an den Körper. Sie strich den Umschlag auf der Bettdecke glatt und betrachtete ihn. Er ist von Slater . Es hatte sie überrascht, den Namen ihres Vaters aus Jessicas Mund zu hören. Seit dem Prozess, seit sie nach Cornwall gezogen waren, hatte sie seinen Namen kaum noch ausgesprochen. Am ehesten hatte Lauren ihn in sachlichen Sätzen gehört. Es kamen Briefe von Anwälten oder Mitteilungen vom Jugendamt sowie drei oder vier Karten von ihren Großeltern, den Eltern ihres Vaters, die nach Nordengland gezogen waren.
Liebe Lauren, deinem Vater geht es gut. Er vermisst dich sehr, genau wie wir. Alles Liebe von Oma Jo und Opa Ray …
Robert Slater wird zum Ende des Quartals nach Manchester verlegt …
Robert Slaters Einspruch gegen lebenslängliche Haftstrafe wurde nicht stattgegeben …
Herr R. Slater hat uns gebeten, seiner Tochter diese Geburtstagskarte weiterzuleiten …
Herr Robert Slater, Bauunternehmer, 48 Jahre, besteht auf seiner Unschuld und will die gegen ihn erhobenen Vorwürfe entkräften …
Solche Mitteilungen hatte Jessica immer widerwillig vorgelesen. Dann wurden sie sorgfältig zusammengefaltet und irgendwo verstaut. Lauren spürte bei diesen Gelegenheiten, dass es keine gute Idee war, die Unterhaltung fortzusetzen. Der Name ihres Vaters brachte immer ein schlechtes Gefühl mit sich. Wie ein Schatten in der Zimmerecke. Wie eine schwarze Krähe, die über ihnen kreiste.
Heute hatte Jessica ihn nur Slater genannt. Das Wort kam ihr über die Lippen, wie man ein Kaugummi ausspuckt.
Laurens Blick fiel auf den Spiegel, der gegenüber vom Bett hing. Ihr Gesicht wirkte lang und dünn, ihre dunklen Augen eingesunken. Sie starrte sich an. Ihre braunen Haare hingen offen auf beiden Seiten des Gesichts herab. So trug sie sie fast nie. Normalerweise flocht sie einen Zopf oder band sie zurück. Manchmal benutzte sie Haarspangen, um sie aus dem Gesicht zu halten. Sie nahm eine Strähne zwischen die Finger und fuhr daran entlang. Die Spitzen waren trocken und mussten wohl geschnitten werden. Sie hatte ihre Haare seit zehn Jahren nicht schneiden lassen.
Sie öffnete den Umschlag und zog ein Blatt Papier heraus. Sie war überrascht, dass es mit Maschine beschrieben war. Der Name ihres Vaters stand oben in der rechten Ecke, Robert B. Slater. Er hatte den Brief am Computer getippt. Ihre Augen wanderten ans Seitenende zur Unterschrift. Sie war dünn und schief, eher ein Muster als Schrift, das R und das S ragten hoch auf, der Rest bestand aus kleinen Kringeln.
Sie versuchte, sich auf das Blatt vor ihr zu konzentrieren, aber ihr Körper fühlte sich plötzlich ganz schwach an. Ihre Rippen schienen weich zu werden. Sie schloss die Augen. Was war mit ihr los? Hatte sie Angst? War sie traurig? Verbittert? Waren es all diese Gefühle zusammen? Sie warf sich zurück aufs Bett. Sie konnte kein eindeutiges Gefühl identifizieren. Es war wie das erste Mal, als sie das
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