Die einzige Zeugin
Nicht mit Jessica. Wenn sie Jessica gegenüber ihre Kindheit, ihre Mutter und Daisy erwähnte, war es immer, als ob sie eine frische Wunde berührte. Also vermied sie es.
Als sie jetzt Donny gegenübersaß, der weiter seine Post sortierte, wollte sie die Hand nach ihm ausstrecken und fragen, ob er damals auch dabei gewesen war, an dem Tag, als ihr Vater seinen Prozess hatte. Wie war das, als der Richter das Urteil verkündete? Haben da alle geklatscht? Das wollte sie ihn fragen. Aber Donny studierte konzentriert den Werbezettel einer Versicherung, also zog sie einen Stuhl heran und setzte sich. Dabei fühlte sie sich unbehaglich, als wäre sie es, die nicht mehr hier wohnte, und nicht Donny.
»Willst du was trinken?«, fragte er, ohne sie anzusehen.
Sie schüttelte den Kopf. Er stand auf, nahm sich ein Glas aus dem Schrank und ging zum Kühlschrank. Die Selbstverständlichkeit, mit der er das tat, ärgerte sie. Sie sah zu, wie er eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank holte und im Gefrierfach nach Eiswürfen suchte. Als er sich wieder setzte, musste sie etwas sagen.
»Du solltest dich nicht so verhalten, als würdest du noch hier wohnen.«
Er seufzte.
»Wo ist Jessie?«, fragte er.
»Warum willst du das wissen?«, sagte sie.
»Sie hat mir gesagt, dass sie heute Abend zu Hause sein würde. Deswegen«, sagte er und ließ sein Glas kreisen, so dass die Eiswürfel gegen die Ränder stießen.
»Sie arbeitet.«
Donny schaute auf. »Sie hat einen neuen Job?«
»Sie arbeitet zur Probe. Zwei Wochen in einem Büro.«
»Das ist gut. Gut, dass sie etwas macht. Dass sie nach vorne schaut. Das ist das Beste für sie, Lolly. Sie muss jetzt nach vorne schauen.«
Sie wünschte, er würde sie nicht Lolly nennen, aber sie sagte nichts. Jessica hatte sich diesen Namen ausgedacht, sehr zum Ärger ihrer Mutter. Ob ihr Vater sie jemals so genannt hatte? Sie konnte sich nicht erinnern. Jessica nannte sie schon seit Jahren nicht mehr so. Jetzt war Donny der Einzige, der diesen Namen gebrauchte. Es war liebevoll gemeint, das wusste sie, aber sie fühlte sich ihm im Moment nicht sehr nahe.
Sie sah zu, wie er sein Wasser trank und einen Brief aus einem Umschlag zog. Der Umschlag war bereits geöffnet, also hatte er ihn wohl vorher schon gelesen. Vermutlich wusste er auch nicht, was er sagen sollte. Dann fiel ihr sein Hemd auf, und darüber sein dunkles Jackett. Er sah anders aus, irgendwie aufrechter, seine Schultern bildeten eine gerade Linie, sein Kragen war steif, seine Krawatte wie von einer Maschine geknotet. Sauber, ordentlich, perfekt. Sogar seine Haare waren kürzer und über der Stirn nach oben gegelt.
»Ist der Anzug neu?«, fragte sie.
Er machte eine abwehrende Handbewegung.
»Den habe ich schon länger. Seit ich den Job hier habe.«
»Ich habe ihn noch nie gesehen«, sagte Lauren.
Warum log er? Lauren kannte Donnys Garderobe. Sie hatten zehn Jahre lang zusammengelebt. Sie kannte den Inhalt all seiner Schubladen und seines Kleiderschranks. Sie wusste, was in seinem Rucksack und in seinen Jackentaschen war. Sie kannte Donny in- und auswendig. Wenn er sie fragte, wo etwas war, konnte Lauren es ihm innerhalb von Sekunden holen. Wo ist meine Lesebrille? Wo ist mein Buch? Mein iPod? Wo zum Teufel sind meine Knieschoner? Lauren kannte Donny wie ihre Westentasche. Er war vertrautes Gelände. Sie kannte ihn einfach.
Auf dem Küchenstuhl neben ihm lag eine Aktentasche aus festem, dunkelbraunem Leder. Sie war zu breit für den Stuhl, die Seiten ragten über die Sitzfläche. Sie musste sie angestarrt haben, weil Donny sich plötzlich verlegen räusperte.
»Die Tasche ist neu. Ein Geburtstagsgeschenk …«
Er sprach den Satz nicht zu Ende. Zweifellos hatte er sagen wollen, dass das Geschenk von seiner neuen Freundin war. Alison.
»Du hast immer gesagt, du würdest niemals eine Aktentasche tragen. Du hast gesagt, das ist nur was für Spießer und Angeber.«
»Die Tasche ist praktisch. Es passt alles rein, und sie sieht gut aus.«
»Hat sie sie dir gekauft?«
Donny zuckte die Achseln.
»Schau dich mal an. Ein neuer Anzug, eine neue Aktentasche. Du bist wie ein anderer Mensch. Du hast sogar einen neuen Haarschnitt!« Laurens Stimme zitterte.
»Der Anzug ist nicht neu, Lolly. Ich habe ihn seit Ostern. Vielleicht ist er dir vorher nicht aufgefallen …«
Von der Haustür kam ein Geräusch, und Lauren hörte Jessicas Stimme. Lauren starrte Donny an und versuchte, seine Reaktion auf Jessicas Erscheinen zu erkennen.
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