Die Eisbärin (German Edition)
Touristen flanierten extra an der Wiese vorbei, um die FKKler mitten in der Stadt zu sehen.
Von dieser Wiese war es nicht weit zu den Stromschnellen beim Haus der Kunst. Hier tanzten jeden Tag Wellenreiter auf ihren Surfbrettern, auch an kalten Wintertagen wie heute. Bekleidet mit Neoprenanzügen schien ihnen die Kälte nichts auszumachen. Selbst in amerikanischen Surfmagazinen wurde über diesen Surfspot berichtet und Wellenreiter aus der ganzen Welt kamen extra hierher.
Manchmal blieb Linda auf der Brücke am Haus der Kunst stehen, um den Surfern zuzusehen, wie sie die Welle im Eisbach abritten. Aber heute hatte sie dafür keine Zeit. Sie verließ den Weg und schlug sich querfeldein durch den Park. Nicht ohne System. Ihr Weg glich einer Spirale. Nach und nach vergrößerte sie den Radius ihrer Runden, um dabei das Areal systematisch abzusuchen. Linda wusste um die Schwierigkeit, den genauen Ursprungsort der Schreie korrekt zu bestimmen. Schall breitete sich im Freien gleichmäßig nach allen Richtungen aus. Wo auch immer diese Frau gewesen war, aus der Ferne und in der Dunkelheit ließ sich das kaum eindeutig bestimmen.
Unvermittelt blieb sie stehen und starrte auf ein paar Fußdrücke im Boden, der über Nacht gefroren war. Nach den milden Temperaturen der letzten Wochen war es gestern Nacht deutlich kälter geworden. Jetzt kommt der Winter doch noch , dachte sie, und ging in die Knie, um sich die Abdrücke genauer anzusehen. Es waren Spuren von nackten Füßen, deutlich sichtbar wie bei einem Gipsabdruck. Sie verglich die Größe mit ihren Schuhen. Identisch, stellte sie fest, Größe 38. Dann musste es wohl eine Frau gewesen sein, die hier barfuß durch den Matsch gelaufen war. Oder ein kleiner Mann. Vielleicht aber auch ein großes Kind.
Zieh keine voreiligen Schlüsse , ermahnte sie sich. Das verengt nur den Blick . Und die Fußabdrücke mussten nichts mit den Schreien zu tun haben. Aber sie waren frisch, daran bestand kein Zweifel.
Linda stand wieder auf und ließ ihren Blick schweifen. Wer zum Teufel lief in dieser Jahreszeit ohne Schuhe durch den Englischen Garten, fragte sie sich. Sie machte mit ihrem Mobiltelefon ein paar Fotos von den Abdrücken, dann ging sie weiter. Wenige Schritte von der Stelle mit den Fußabdrücken entdeckte sie ein Büschel langer, blonder Haare. Sie hatten sich in einem Ast verheddert.
Linda stellte sich vor, wie eine Frau barfuß durch den Englischen Garten rannte und ihre Haare sich in einem Ast verfingen, während sie vor einem Verfolger davonlief. Möglich, dachte Linda, es könnte sich auch etwas ganz anderes abgespielt haben, etwas völlig Harmloses.
Wie hatte ihr Vater, ein Chirurg, immer gesagt: das Häufige ist häufig, das Seltene selten. Und Verbrechen waren in dieser Stadt zum Glück selten. München hatte gerade mal 1,3 Millionen Einwohner, dazu kamen noch rund dreihunderttausend aus dem Landkreis. Und diese Menschen hielten sich im Großen und Ganzen an die Gesetze, Kapitalverbrechen standen nicht auf der Tagesordnung. München war alles in allem eine friedliche Stadt im Vergleich zu anderen deutschen Metropolen. Und darauf bildeten sich die Münchner etwas ein.
Trotzdem , dachte Linda, zupfte die Haare von dem Ast und packte sie in eine kleine Plastiktüte für die Kriminaltechnik. Ihr Blick blieb an dem Baum hängen, in dessen Stamm ein Herz und darin die Initialen V und D eingeritzt waren. Sieht neu aus, das Herz , dachte sie und zeichnete es versonnen mit dem Finger nach. Die Rinde war noch ganz hell, als wäre das Herz erst kürzlich eingeritzt worden. Aber so genau kannte sie sich mit Bäumen nicht aus.
Es begann zu schneien. Innerhalb weniger Minuten fielen dicke Flocken herab. Linda schlug ihren Mantelkragen hoch. Sie hasste den Schnee in der Stadt, der selten liegen blieb, sich meist in grauen Matsch verwandelte. Linda wollte schleunigst zu ihrem Wagen zurück. Sie musste zu den Eltern fahren. Schnell stapfte sie durch den Park. Das Schneetreiben wurde immer dichter. Der Wind peitschte ihr die Flocken direkt ins Gesicht.
***
Nach einer kurzen Autofahrt erreicht Linda das Haus der Familie Schön. Die Frau, die ihr die Tür öffnete, hatte dunkle Ränder unter den Augen, in ihren Augen spiegelte sich pure Angst. Linda stellte sich vor und zückte ihren Dienstausweis. Dorothea Schön nickte unmerklich, trat zur Seite und ließ sie herein.
Linda öffnete ihren Schal, den sie dreimal um den Hals geschlungen hatte, und kam sofort zur Sache. »Sie
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