Die Eisbärin (German Edition)
vermissen also Ihre Tochter? Vanessa, richtig? Seit Freitagabend?« Linda registrierte das wieder fast unmerkliche Nicken der Frau. »Wo könnte sie an dem Wochenende denn gewesen sein, wenn sie nicht bei ihrer Freundin gewesen ist, wie sie Ihnen gesagt hatte?«
»Ich habe alle Freundinnen und Schulfreunde angerufen. Freitagabend war sie noch mit ein paar von ihnen aus gewesen. Aber gegen neun Uhr hat sie sich verabschiedet, und seitdem hat Vanessa niemand mehr gesehen«, sagte sie mit leiser Stimme.
»Hat Ihre Tochter ein Handy?«, fragte Linda. Nun knöpfte sie ihren Mantel auf, behielt ihn aber an. Sie wollte nicht lange bleiben.
»Ja, aber das ist ausgeschaltet. Da läuft nur die Mailbox.« Jetzt kämpfte Frau Schön mit den Tränen.
Bloß nicht heulen , flehte Linda innerlich. »Ich brauche die Nummer. Und ein aktuelles Foto, bitte.« Linda suchte nach etwas zum Schreiben. In ihrer Jeans fand sie einen kleinen gelben Zettel. Lukas Hemden! Die durfte sie auf keinen Fall vergessen, genauso wenig wie den Sperrmüll im Kofferraum. Das mach ich alles heute Abend auf dem Heimweg .
Frau Schön reichte ihr einen Kugelschreiber und ein gerahmtes Foto, das in der Diele auf der Kommode gestanden hatte. Linda warf einen flüchtigen Blick darauf. Hübsch bist du Vanessa. Und du hast langes blondes Haar, dachte sie, dann notierte sie auf der Rückseite des Reinigungszettels die Telefonnummer. Sie würde das Telefon orten und feststellen lassen, wann es das letzte Mal eingeschaltet worden war, und mit wem das Mädchen die letzten Tage telefoniert hatte. Aber das hatte noch Zeit. Die meisten Ausreißer tauchten wieder auf. »Ist das schon öfter vorgekommen?«, fragte Linda und steckte den Zettel wieder in ihre Jeans.
Die Mutter schaute Linda ratlos an.
»Ich meine, hat Ihre Tochter schon einmal etwas anderes gemacht, als sie Ihnen erzählt hat? Ist sie früher schon einmal von zu Hause weggelaufen?«
Die Frau schüttelte heftig den Kopf. »Nein, nie. Sie ist keine, die uns anlügt. Sie hat alle Freiheiten, sie muss nichts heimlich tun.«
»Das heißt, Sie erziehen ihre Tochter nicht sehr streng?«
Die Frau antwortete nicht auf ihre Frage.
»Wie steht es mit Jungs? Hat Vanessa einen Freund?«
»Nein, da ist nichts Ernstes.«
Linda musterte die Frau genau. Sie log oder sagte zumindest nicht die ganze Wahrheit. Das verrieten ihr Kleinigkeiten im Gesicht der Frau. Linda hatte sich intensiv mit dem Thema beschäftigt. Dieses leichte Zucken um die Augen, das war ein verräterisches Indiz. Lügner konnten ihre Mimik nicht komplett kontrollieren. Selbst ein Pokerface zeigte verräterische Reaktionen. Sie traten kaum sichtbar und abrupt auf und verschwanden genauso schnell wieder. Dem geschulten Blick eines aufmerksamen Beobachters entgingen sie jedoch nicht. »Ein so hübsches Mädchen?«, hakte Linda nach und betrachtete das Foto. »Das kann ich gar nicht glauben. Oder hat Sie es Ihnen vielleicht nur nicht erzählt?«
»Mein Mann… wissen Sie…«, begann die Frau stockend, »der will nicht, dass Vanessa jetzt schon mit Jungs zu eng ist.«
»Sie hat nie einen Freund mit nach Hause gebracht?«
»Doch schon.«
»Aber nur wenn Ihr Mann nicht zu Hause war?«
»Ja.«
»Darf ich ihr Zimmer sehen?«, fragte Linda und verwarf damit ihren Plan, hier nur eine kurze Befragung vorzunehmen. Irgendetwas drängte sie dazu, einen zweiten Blick hinter die Fassade zu werfen.
Frau Schön nickte und ging durch die große Diele zu einer Treppe. Linda folgte ihr nach oben. Die Schlafzimmer befanden sich im oberen Stockwerk. Hier standen alle Türen offen und Linda warf neugierig einen Blick in die Räume. »Hat Vanessa Geschwister?«
»Ja, Tom und Tatjana. Die Zwillinge sind zehn Jahre alt. Ich bin das zweite Mal verheiratet. Vanessa stammt aus meiner ersten Ehe. Hier ist Vanessas Zimmer.« Frau Schön blieb an der Tür stehen und ließ Linda eintreten.
»Darf ich?«, fragte Linda und deutete auf den Kleiderschrank. Vanessas Mutter nickte, und Linda öffnete den Schrank. Darin befanden sich die für ein junges Mädchen typischen Klamotten. Jeans, Miniröcke, ein paar Kleider, T-Shirts. Die Unordnung hielt sich in Grenzen. Selbst bei einem Teenager sieht es noch aufgeräumter aus als bei mir , dachte Linda peinlich berührt. Sie machte den Schrank zu und widmete sich dem Schreibtisch. Hier stand ein Laptop, daneben lagen ein paar Mappen, zwei Bücher, ein Notizbuch, CDs, Krimskrams. »Was hat Vanessa denn für ihren Wochenendtrip
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