Die Eisfestung
und aufsetzen konnte. Ringsum waren säuberlich die Ziegel gemauert und bildeten über ihr eine kleine Kuppel, an der Seite konnte sie ein Steinsims erkennen. Emily rutschte noch etwas, bis sie so weit wie möglich von der Öffnung entfernt war, lehnte den Rücken an die Mauer und umklammerte die Beine mit ihren Armen.
Sie saß da und horchte.
Eine Weile lang hörte sie nichts außer dem Wind. Mehrmals trampelten Schritte an der Tür vorbei, aber zu ihrer großen Erleichterung kam niemand herein.
Die Zeit verstrich. Emily hatte keine Ahnung, wie spät es inzwischen war. Sie wollte auf die Uhr schauen, aber es war in dem Ofen zu dunkel, um die Zeiger erkennen zu können. Auch draußen schien das Licht schwächer zu werden. Plötzlich erstarrte sie, ihr Herzschlag setzte einen Augenblick aus. Schritte. Sie gingen nicht vorbei, sie hielten an.
»Sollten wir besser auch überprüfen«, sagte die Stimme einer Frau.
»Dann mal aus dem Weg.« Die Stimme eines Mannes. Mürrisch. Lustlos.
»Haben Sie eine Taschenlampe dabei?«
»Natürlich nicht! Hab nicht gedacht, dass wir heute noch als Höhlenforscher unterwegs sein würden.« Der Mann schien sich hingekniet zu haben, um in den ersten Backofen zu schauen. Als er weitersprach, klang seine Stimme dumpf und hohl. »Kann man verdammt wenig sehen. Ist aber leer.«
»Woher wissen Sie das, wenn Sie nichts sehen können?«
»Die sind nicht mehr in der Burg, die haben’s irgendwie rausgeschafft.«
»Der hier ist auch leer. Bleibt noch einer.«
»Die sind doch längst über alle Berge.«
»Er hat gesagt, dass es keinen anderen Ausgang gibt.«
»Wenn Sie dem versoffnen alten Typen da glauben, dann können Sie gleich alles glauben.« Die Stimme kam näher. »Wird irgendwo noch’ne Öffnung geben, die er nicht bemerkt hat, das ist alles.«
Emily kauerte sich in ihrer dunklen Höhle noch mehr zusammen. Ein schlurfender Schritt. Direkt vor ihrem Backofen. Etwas näherte sich der Öffnung. Wenn er seinen Kopf durchsteckte, dann hatte er sie.
»Da ist niemand drin.«
»Haben Sie auch richtig nachgesehen?«
Ein Schatten. Sie konnte hören, wie er atmete, konnte riechen, dass er gerade einen Pfefferminzbonbon lutschte. Ein Nerv in ihrer Wange zuckte nervös.
»Jetzt beruhigen Sie sich mal! Das ist der kleinste. Er ist leer.«
»Okay, dann gehen wir.«
Der Schatten verschwand. Erneut schlurfende Schritte. Der Nerv in Emilys Wange zuckte wieder.
»Was jetzt?«, fragte die Stimme des Mannes.
»Wir bleiben auf diesem Stockwerk«, antwortete die Stimme der Frau. »Wie man es uns gesagt hat. Wir drehen wieder unsere Runden.«
»Na, großartig . Das ist doch vollkommener Schwachs – Haben Sie das gehört?«
Auch Emily hatte es gehört, ein wildes Triumphgeschrei, das durch die ganze Burg hallte. Es gab ihr einen Stich ins Herz.
»Sie haben einen geschnappt! Nichts wie hin!«
»Nein, wir tun, was man uns gesagt hat. Wir bleiben auf diesem Stockwerk.«
Die Stimmen zankten noch weiter, entfernten sich. Emily blieb allein in ihrer Ofenhöhle zurück und starrte blicklos in das Dunkel. Das Echo des Triumphschreis hallte noch in ihren Ohren. Die Stimme des Mannes. Sie haben einen geschnappt! Sie haben einen geschnappt! In ihrem Innern zog sich etwas zusammen. Wie eine Pflanze, die verdorrte und starb. Sie hatte sich noch niemals zuvor in ihrem Leben so einsam und verloren gefühlt.
Draußen auf dem Gang rannten Schritte vorbei. Sie hörte Stimmen rufen und das Knistern eines Funkgeräts. Ein Mann lachte laut auf.
Ein Teil von Emily wusste, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen war, um aufzugeben. Einer von ihnen war geschnappt worden, und früher oder später würden sie herausbekommen, wer sie war. Egal, wie lang sie sich noch versteckte. Aber ein anderer Teil von ihr, und es war der größere, wehrte sich hartnäckig dagegen. Dieser Teil wollte sich nicht freiwillig ergeben, und der Lärm ihrer Feinde, die laut durch die Festung trampelten, entfachte in ihm eine eiskalte Wut. Nein, sie würde nicht aufgeben, sie mussten sie schon mit Gewalt aus ihrem Versteck zerren, wie eine Schnecke, die man mit einer Stecknadel aus ihrem Gehäuse zieht, um sie dann zu verspeisen.
Oder es gelang ihr doch noch die Flucht.
Das würde ihr letztes trotziges Aufbäumen gegen das Schicksal sein. Wahrscheinlich hatten sie mit dem Verhör schon begonnen; wahrscheinlich wussten sie schon, wer sie war. Aber selbst wenn sie zu Hause schon auf sie warten würden (in ihrem Kopf blitzte kurz ein
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