Die Eismumie
aufklären und den damit verbundenen Medienzirkus ertragen, sondern auch ein Dutzend weiterer Fälle bearbeiten. Er hatte in letzter Zeit spürbar nachgelassen, und seine Berichte wurden immer verworrener. Doch Geisel brachte es nicht übers Herz, den jüngeren Mann zu demoralisieren, indem er ihm den Sun-City-Fall entzog.
Geisel waren in den vergangenen Monaten zu viele Fehler unterlaufen. Allmählich fragte er sich auch, ob nicht doch die Kritiker und Pessimisten beim FBI Recht hatten: Vielleicht hatte die Abteilung für Behavioral Science tatsächlich ihren Zenit überschritten. Bei den rasanten Fortschritten in der DNA-Analyse und der Verbreitung kriminaltechnischer Labore in allen Regionen verloren die Profiler und Verhaltenspsychologen mehr und mehr den Ruf, magische Kräfte zu besitzen.
Der Direktor rieb sich die müden, von tiefen Falten umgebenen Augen und erwog, einen Kaffee aufzusetzen. Es würde ein langer Vormittag werden, und er musste viele Anrufe tätigen.
Geisel trug noch seinen Pyjama und seinen Morgenmantel und durchquerte langsam das luxuriös ausgestattete Arbeitszimmer seines Südstaatenhauses in Fredericksburg. Das Anwesen atmete Wohlstand, es stammte aus dem Farmimperium der Geisel-Familie, das Thomas als der älteste von vier Söhnen geerbt hatte. Um die Inneneinrichtung des Hauses hatte sich allerdings Lois Geisel gekümmert, die zweite Ehefrau des Direktors. Leider war sie seit vielen Jahren schwer krank. Mit den gemütlichen Möbeln im Landhausstil bis hin zu der beeindruckenden Sammlung von Volkskunst hatte sie ihm ein perfektes Heim geschaffen, das ihm eine willkommene Rückzugsmöglichkeit von den Alltagsgeschäften im Büro in Quantico bot, zwanzig Meilen nördlich den Potomac hinauf.
Tom warf einen Blick auf den Posteingangskorb, der auf der Ecke des massiven Schreibtisches im Kolonialstil stand: Der Korb quoll über von Dokumenten, Aktennotizen und Briefen. Er nahm oft Arbeit mit nach Hause, und in letzter Zeit sprengte seine To-do-Liste jeden Rahmen. Unter den Papieren befanden sich mindestens ein Dutzend Memos von seinen Vorgesetzten beim FBI, die ihn dafür kritisierten, dass er Grove nicht von seinen Pflichten entband. Geisel hatte sich in den vergangenen Monaten schützend vor den Profiler gestellt. Grove würde den Fall lösen. Er war ihr bester Mann. Doch insgeheim – an diesem Morgen um drei Uhr – begann auch er an dessen Fähigkeiten zu zweifeln.
Auf dem Grund des Postkorbs lag schon seit Wochen ein Dokument, dem er keine wirkliche Beachtung beigemessen hatte. Es handelte sich um den Ausdruck einer E-Mail, die eine Journalistin des Discover Magazine vor einigen Monaten an die Abteilung geschickt hatte – es handelte sich dabei um jene Art von Anfragen, wie sie sie jede Woche zu Dutzenden erhielten. Entweder bat ein Nachrichtensender um einen Experten, der sich zu einem Prominentenskandal äußern sollte, oder ein Medienvertreter wünschte eine zitierfähige Aussage der Behörden. Es kam zwar nur selten vor, dass ein populäres Wissenschaftsjournal wie das Discover Magazine mit dem Büro Kontakt aufnahm, doch Geisel hatte bisher keinen Anlass gesehen, das Schreiben sonderlich ernst zu nehmen.
Sicher war er der letzte Mensch auf Erden, der glaubte, dass eine vier Monate alte E-Mail den Gang der Sun-City-Ermittlungen beeinflussen könnte.
Doch er hatte auch in der Vergangenheit schon einmal falsch gelegen, und er sollte sich – wie er bald erkennen musste – wieder täuschen.
In der Forensik gibt es eine Maxime, die mit dem Bild der ablaufenden Sanduhr beschrieben wird. Die Uhr beginnt in dem Augenblick zu laufen, in dem ein Mord begangen wird. Ab dann verschlechtert sich die Beweislage mit jeder Minute. Fingerabdrücke werden verwischt, Substanzen zur DNA-Bestimmung unbrauchbar, Blut trocknet ein oder flockt aus. Sogar psychologische Anhaltspunkte schwächen sich ab. Die Lage der Leiche wird verändert oder uniformierte Polizisten vor Ort bewegen Gegenstände – eine unvermeidbare Nebenerscheinung bei der Sicherung des Tatorts – und niemand weiß das besser als die Profiler beim FBI.
Deshalb beeilte sich Ulysses Grove so sehr an diesem Morgen. Er wollte so schnell es ging nach Estes Park, Colorado.
Er machte sich nicht die Mühe, mehr als eine Garnitur Kleidung zum Wechseln einzupacken. Er nahm nur den kleinen Handkoffer, seinen Aktenkoffer und den abgetragenen Burberry-Regenmantel mit, den Hannah ihm vor zehn Jahren zum Hochzeitstag geschenkt hatte. Ulysses
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